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Der Umzug findet nicht am darauffolgenden Tag statt, sondern am Freitag. An diesem Tag weint sich Pius seine Augen aus seinen Aughöhlen und auch die anderen Kinder sind unglücklich. Märyn kennt das Phänomen schon, denn für Seelenblüter empfindet ein Außenstehender keine tiefen Hassgefühle, er kann dies nicht tun, auch wenn man es möchte. Ein Außenstehender kann nur Freundesliebe für diesen besonderen Menschen existieren lassen. Und wenn ein Seelenblüter von seinen Mitmenschen weggeht, sind die Leute automatisch unglücklich darüber.

Das Seelenblut der Blume, was im Blut der Besonderen fließt, hat einzigartige Pheromone, die für das Phänomen verantwortlich gemacht werden.

Doch näheres kennt selbst das siebzehnjährige Mädchen nicht.

Sie umarmt den kleinen Pius ein letztes Mal, verspricht ihn, mit ihrer lieblichen Stimme, ihn zu besuchen, wenn sie sich eingelebt hat. Dann entfernt sie sich von ihm, winkt einmal in die Runde, während sie in den grausilbernen Personenkraftwagen, der offensichtlich seine besten Jahre schon hinter sich gelassen hat. Eine Wäsche könnte er sogar gebrauchen, selbst im Innenraum wäre eine Wäsche nicht übel. Nicht die Sitze oder den Boden, die anscheinend frisch gesäubert wurden, aber die Luft riecht etwas unangenehm. Ein verblasster Staubsaugergeruch nimmt man wahr, gemischt mit morgendlichen Kaffee, der zwischen sechs und acht Uhr in der früh getrunken wird, und Pfefferminzbonbons, die sie nicht leiden kann.

Sie erfreut sich aber, dass der Wagen über modernste Technik verfügt. Kleine Fernseher sind in die Vordersitze integriert, die Navigationsanlage ist hochmodern, selbst das Radio hat anscheinend Anschlüsse für einen MP3-Player oder einem Handy.

In der Situation passt das Sprichwort 'Man soll ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen.', denn der Wagen sieht von innen viel besser aus als von außen.

„Wenn du möchtest, hier ist die Fernbedienung für den Fernseher. Wir haben nur keine Filme dabei, da müsstest du dich mit dem normalen Programm begnügen."

Lucie, ihre neue Pflegemutter, überreicht ihr die Fernbedienung für den Fernseher im Vordersitz und setzt sich, mit Blick nach vorne, auf den Beifahrersitz hin.

Nachdem Nikolas, ihr neuer Pflegevater, alle Kartons und die zwei Rucksäcke in den kleinen Anhänger am Auto verstaucht, ihn ausreichend gesichert und sich dann auf den Fahrersitz Platz genommen hat, schaltet Märyn den kleinen Bildschirm vom TV-Gerät ein. Ihre Kopfhörer steckt sie in die Buchse am Gerät, dann die Enden in ihre Ohren und lehnt sich entspannt zurück.

Gerade einmal eine halbe Stunde fahren sie Richtung neues Zuhause, da fallen Märyn ihre Augen zu und sie schläft auf dem Rücksitz ein.

Sie träumt.

Jeder Traum behandelt die selbe Handlung, jeder Traum handelt von ihren leiblichen Eltern. Wie alle drei im Haus am Stadtrand tagsüber gewohnt, gelacht, gespielt und gelernt haben. Gelernt im Sinne von Wissen aneignen, wie es ist, ein Seelenblüter zu sein.

Wie das kleine Mädchen jeden Abend auf dem Arm ihres Vaters in den Wald getragen wird, dort, wo das Rudel normalerweise gelebt hat. Es ist traurig zu wissen, dass wenn sie in den Wald wieder zurückkehrt, dass es dort keine älteren Leute gibt, die ihr die Legenden über die Vorfahren erzählen.

Im Traum sieht sie besagten Wald voller Leben. Eine Menge Kinder laufen aufgekratzt umher, was im größten Rudel der Welt kein Wunder gewesen ist, auch wenn fast alle Seelenblüterpaare nur ein Kind besessen haben.

Sie ist von ihrem Vater oft zu einem gleichaltrigen Jungen gesetzt worden. Mit diesem Jungen hat sie gespielt, da konnten beide noch nicht laufen. Die Freundschaft ist eine so tiefe gewesen, wie es keine zweite geben kann.

SeelenblüterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt