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Im Verlauf des Tages verbringt Märyn die Zeit mit Lesen, wenn gleich sie das Versteck gerne vermieden hätte. Aber Arnim braucht nun jede Aufmerksamkeit von ihrer Person, denn andere wissen noch nichts von dem Koma in dem er liegt. Informieren will sie auch niemanden, hätten die Leute danach zu viele Fragen, die sie absolut nicht beantworten kann.

Die Nacht bricht zu langsam an, ist für sie viel zu kurz, um vernünftig die Zutaten des Rezeptes zu suchen. Es fehlen zwei Mal Melken, ihr Blut, die Feder des Vogels und das Haar des Wolfs. Wie soll sie das schaffen, ohne eine Ahnung von manchen Orten zu haben und mit Verätzungen an beiden Armen? Es sind zwei Tage einschließlich heute noch. Deshalb liest sie wie eine Verrückte in den alten Schinken der Seelenblüter auf der Suche nach einer oder mehreren Lösungen. Bislang ist es aussichtslos verlaufen.

Von den ganzen Wörter und Abbildungen bekommt das Mädchen sehr schleichend Kopfschmerzen, weswegen sie eine Pause einlegt und automatisch zum Jugendzimmer geht, in dem Arnim liegt. Auch wenn jede Körperfaser gegen den Anblick rebelliert, lange kann sie ihn nicht außer Augen lassen. Irgendetwas fühlt sie mehr und mehr, dies macht ihr Angst, denn sie hat nur früher so stark empfunden.

Schritt für Schritt nähert sie sich dem Jungen im Bett, der friedlich auf dem Kissen und unter der Strickdecke liegt. Seine Lider bewegen sich leicht, dass ist aber das Einzige, was ihn lebendig erscheinen lässt. Kaum heben und senken der Decke, keine Muskelzuckung, die manchmal im normalen Schlaf passiert.

Märyn kniet sich neben der erhöhten Matratze nieder, streichelt automatisch mit der Hand über das Haar, welches leicht kitzelt unter ihren Fingern. Da kein Gift vom Vortag noch an den Händen vorhanden ist und sie diese mit einer kleinen Tinktur aus getrockneten Seelenblutsblumen getröpfelt hat, berührt ihre Haut die Haut von ihm.

Eisige Kälte strahlt er aus, der Tod lauert in jeder Zelle seines Körpers und nur sie kann etwas daran ändern. Schrecken übermannt sie aufs Neue. Was ist, wenn sie am Ende ihn trotz aller Bemühungen verliert?

„Ich weiß nicht, was ich für dich empfinde. Letztens habe ich dir ja erzählt, du bist mir ans Herz gewachsen, doch das ist untertrieben. Du hast dich irgendwie in mein Herz geschlichen und nun löst es irgendetwas in mir aus, dass ich verlernt hatte. Kann auch sein, dass ich mich täusche, weil ich dich nicht verlieren will, aber ich rette dich. Der Tod holt dich nicht solange ich bei dir bin. Und ich verlasse dich nimmer mehr."

Wie aus einem Reflex her küsst sie ihn auf die Wange, legt für einige Zeit ihren Kopf neben seinen. Verliebt ist sie noch nie gewesen, jedoch deuten alle Anzeichen darauf hin. Es kann niemals nur an seiner jetzigen Situation liegen, dass sie Herzklopfen in seiner Nähe bekommt, der Kuss und keine Verlegenheit spricht auch fürs verliebt sein. Doch das Mädchen erkennt dies nicht. Für sie ist der Junge ein sehr guter Freund, ein Bruder im entferntesten Sinn, aber ihr Körper sehnt sich nach mehr. Im Unterbewusstsein kribbelt auch die Sehnsucht nach mehr.

Doch was würde passieren, wenn Märyn ihren Gefühlen nachgeht? Arnim würde nicht reagieren können, sie könnte all die komischen Gefühle von der Seele reden, doch in ihr sträubt sich alles. Als Freund möchte sie in behalten.

„Falls ich mal zu dir sage, dass ich dich vielleicht lieben könnte, dann lache bitte darüber und vergesse es rasch. Denn ich weiß nicht, was Liebe genau bedeutet. Und verliebt sein ist nichts für mich. Wer würde mich denn lieben können? Ein Wildfang ist doch kein Liebesobjekt, oder liege ich falsch?", lacht sie mit geraden Blick zu seinen geschlossenen Augen.

Da sie keine Regung von dem komatösen Jungen bekommt, rappelt sie sich auf und geht auf den Spiegel zu. Blickt direkt auf die Augenringe, die augenscheinlich das ganze Gesicht bedecken. An ihren Körper trägt sie einen Pullover, der die besten Zeiten von sich schon erlebt hat, aber hilft die Verätzungen an Armen zu verstecken. Die Hände allerdings sehen schrecklich hässlich aus. Beim Anblick auf ihre ehemaligen sehr nützlichen Körperteile wird ihr übel. Speiübel.

Schnell wandert sie mit den blauen Augen runter zu ihrer Hose, die leicht mit Erde verdreckt ist und dann weiter zu ihren Füßen. Nackt stehen diese auf ein paar vermoderte Blätter, die Zehen zieht sie kurz zu sich. Alles in allen sieht Märyn grausam im Verhältnis zu den eigentlichen Tagen aus, noch mieser als die Tage, die sie krank gewesen ist.

Plötzlich kommen ihr Bilder vorm geistigen Auge, die das Mädchen nicht gerne sieht. Bilder von früher, in denen sie glücklich ist.

Die seidigen Haare in dunkelblond von ihrer Mama, sie kitzeln auf ihrer Haut. Sie singt mit engelsgleicher Stimme das Mädchen in den Schlaf, gibt ihr jeden Tag zum Aufwachen einen zarten Kuss auf die Stirn, nennt Märyn ständig ihr kleines Juwel.

Warme Umarmungen von beiden Elternteile, die Liebe ausstrahlen. Nicht selten bringen die Erwachsenen das zweijährige Kleinkind zum lachen, ob mit Fingern, die über den Bauch oder die kleinen Füßchen gleiten. Küsschen in sämtlicher Form bleiben kurz als Bilder im Gedächtnis zurück.

Ihr Vater taucht nun in den Vordergrund auf. Die beinahe schwarzen Haare, wie Ebenholz schimmern sie ab und an mal im Licht, lassen das Mädchen strahlen. Ihre kleine Hand fährt öfters durch diese, danach grinst die Kleine wie ein Honigkuchenpferd. Er trägt sie mal auf seinen Schultern, mal hält er sie auf einen Arm an seiner Brust. Und in der Nacht setzt er sie in ihren Kindersitz im alten Auto hin, das nach Tannengrün und das Parfüm ihrer Mama gerochen hat.

Märyn erinnert sich noch an die recht kurze Fahrt, in der sie ein wenig geschlafen hat. Schon damals fallen ihr die Augen bei einer Autofahrt zu, jedoch passiert es heutzutage nicht so schnell wie in früheren Zeiten.

Stürmisch wird sie aus dem Schlaf in für sie fremde Hände gegeben, höchstwahrscheinlich ist es ein Freund der Eltern gewesen, der den kleinen Krümel behutsam zu sich genommen hat. Die Eltern sind ohne sie weggefahren und nie mehr wieder gekommen. Ein leiser Schrei bleibt ihr mit den Bildern in Erinnerung, wissen tut sie über den Tod von Mutter und Vater nichts.

Traurig kann sie endlich den Blick vom Spiegel lösen, jede Faser im Körper sehnt sich aber nach der Wärme von früher, die hier in der Halle geherrscht hat.

„Weißt du was Arnim?", fragt sie den bewusstlosen Jungen, doch spricht sofort weiter, „Wir beide bringen die Wärme und die Liebe in diesen Wänden zurück. Nur musst du aufwachen und nicht wie ein Toter in meinem Bett liegen.

Hörst du, wach auf und wir räumen hier richtig auf, okay?"

Die Verzweiflung in ihrer Stimme ist keineswegs zu überhören, leider lauscht ihren Worten niemand zu.

SeelenblüterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt