(Der Freund meiner Mutter und meine eigene Unvollkommenheit)

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Vor ein paar Tagen habe ich das erste Mal den Freund meiner Mutter gesehen. Sie haben in der Küche gesessen und Rotwein getrunken als ich vom Yoga nach Hause kam. Er ist bei uns über Nacht geblieben. Ich weiß nicht, ob es die erste Nacht war, die sie zusammen verbracht haben.

Aber man kann noch so aufgeklärt sein. Man kann noch so tolerant sein. Man kann denken, dass man abgeklärt ist. Ich rede mir ein, dass ich das bin: abgeklärt. Trotzdem ist es ein hässliches Gefühl, wenn man als Tochter im Nebenzimmer im Bett liegt, eingerollt, die Hand zwischen die Knie geklemmt und dabei zuhört wie ein Fremder, der nicht der eigene Vater ist, die Mutter flachlegt. Man liegt dann im Bett und stellt sich vor, wie er ordinäre Sachen zu ihr sagt oder ihr Anweisungen gibt, was er von ihr möchte. Und dann das Gestöhne und der Moment, in dem es aufhört weil... Es fühlt sich so falsch an, man hofft einfach, dass das alles nicht wahr ist.

Aber wahrscheinlich ist das nur deshalb, weil ich selbst so unausgeglichen bin. Vielleicht kann ich es nur nicht ertragen, weil es mich an mich selbst erinnert. Weil es mich daran erinnert, was ich alles für Ben tue. Einmal hab ich mich geweigert, und dann hat er mich weggeschickt. Ich dachte eigentlich, dass er mich danach gleich anrufen, und sich entschuldigen würde oder mir sogar im Treppenhaus nachlaufen würde. Aber nichts... Er hat sich über Tage hin nicht mehr gemeldet und ich hab dann zu Hause gesessen und bin ganz langsam durchgedreht.

Aber immerhin hab ich standgehalten. Wenn ich etwas kann, dann stoisch still vor mich hinleiden. Ich hab mich nicht bei ihm gemeldet, und nach vielleicht vier Tagen war ich fast schmerzfrei.

Aber dann ist genau das passiert, was anderen Menschen, die mehr Glück im Leben haben, nicht passiert. Genau in dem Moment, als ich den Eindruck habe, dass ich durchkomme, dass ich diese Affäre womöglich ausstehen kann und bereit bin, sie hinter mir zu lassen, daraus zu lernen und beim nächsten Mal vorsichter zu sein, schickt er mir eine Mail. Als könne er Gedanken lesen. Eine zuckersüße Mail, die ich erst nicht öffnen will, die ich sogar schon in den Papierkorb verschoben habe, weil es mir endlich wieder besser geht und ich mich noch zu mir selbst sagen höre: „mach das nicht! Lies diese Mail nicht! Tu dir das nicht an, Ivanka...."

Aber nein. Nein. Nein... Ich muss diese Mail am Abend kurz vor dem Ins-Bett-gehen wieder aus dem Papierkorb fischen. Ich muss diese Mail öffnen und lesen.

Ich les sie nicht einmal. Ich les sie nicht zweimal. Ich les sie bestimmt drei oder viermal hintereinander. Denn noch während ich sie lese, schwappen diese warmen wohltuenden Wellen durch meinen Körper und meine ganze asketische Arbeit ist dahin...

12 WochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt