(Die Züge meiner Mutter)

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Aber meine beste Freundin hat einen siebten Sinn für solche Fragen. Sie weiß sofort, um was es geht. Sie öffnet ihre Tasche, kramt einen kleinen aufklappbaren Schminkspiegel heraus und hält ihn mir vors Gesicht.

"Das sind die schönsten Lippen, die ich je gesehen habe", sagt sie während meine Lippen vor meinen Augen tanzen, und wenn jemand etwas anderes behaupte, wenn jemand behaupte, diese Lippen seien ordinär, dann sei dieser jemand offensichtlich vollkommen blind für meine Schönheit und habe mich nicht verdient. Genau genommen sei diese Person in diesem Fall wohl total verblödet.

Sie ist die einzige, der ich von Ben erzählt habe. Sie ist die einzige, der ich das anvertraue. Und sie tut in etwa das, was eine richtige Freundin in solchen Fällen tun sollte.

Sie ist bestimmt keine Heilige, sie hat Fehler. Sie ist ein bisschen geschwätzig, sie plappert einfach zu viel und manchmal versteht sie Zusammenhänge nicht, die auf der Hand liegen. Manchmal versteht sie nicht, dass sie von anderen für dumm verkauft wird oder dass sie das eine oder andere Foto, das sie selbst oder jemand anderes von ihr geschossen hat, einfach nicht hochladen darf. Man muss sie manchmal vor sich selbst und der Welt in Schutz nehmen.

Aber sie ist eine gute Freundin. Sie schimpft mit mir. Sie sagt mir, dass ich sofort damit aufhören soll, mich selbst zu erniedrigen. Das habe ich nicht nötig. Aber sie hört sich auch alles an und tröstet mich. Und nie würde sie auf die Idee kommen, mich fallenzulassen, nur weil ich das Falsche tue und nicht auf sie höre. Sie schimpft und sagt dann, dass sie mich sehr lieb habe.

Meine beste Freundin sieht ganz anders aus als ich. Sie hat blond gewellte Haare, blaue Augen, ein winziges Doppelkinn und eine hübsche Stupsnase, auf die ich manchmal meine Fingerkuppe lege, wenn ich sie necken will. Und sie hat diese sehr weibliche Figur. Sie ist vielleicht ein bisschen füllig um die Schenkel, aber das tut ihrer Schönheit keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil. Sie ist die Vollendung einer Frau. Wenn ich ein Junge wäre, würde ich alles dafür tun, sie für mich zu gewinnen und mit ihr zusammen zu sein.

Sie war ein paar Mal unglücklich verliebt. Irgendein Junge aus der Parallelklasse hat ihr das Herz gebrochen. Aber jetzt ist sie darüber hinweg. Bei ihr ist dieses Unglücklich-Verliebtsein auch ganz anders abgelaufen als bei mir. Das liegt vielleicht daran, dass sie diese Mutter und diesen Vater hat, die sich kümmern. Sie kann einfach nach Hause kommen, wenn sie traurig ist und dann merkt ihre Mutter das und tröstet sie und redet mit ihr und gibt ihr das Gefühl, geliebt zu werden.

Ich würde ihr das nie sagen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass meine beste Freundin irgendwann einmal so sein wird, wie ihre Mutter. Sie würde das als Kritik auffassen. Sie würde das bestimmt nicht mögen, wenn ich ihr sage, dass ich ihre Mutter in ihr sehe. Welches Mädchen mag das schon?

Aber für mich ist das etwas Gutes. Wenn ich ihre Mutter sehe, dann sehe ich eine schöne glückliche Frau, die ausgeglichen wirkt, die ein bisschen Speck angesetzt hat, die schöne Kleider in gedeckten Farben trägt, die ihr stehen, die mit sich und ihrer Figur und ihrem Alter im Reinen ist, und die gerne Mutter ist. Die nicht, wie meine Mutter, lieber die beste Freundin meiner besten Freundin wäre oder noch schlimmer, mit meinem Freund flirtet. Bei meiner Mutter ist in der Entwicklung irgendetwas schief gelaufen. Bei ihrer Mutter nicht.

Wenn ich in meiner besten Freundin die Züge ihrer Mutter sehe, dann sehe ich die ganze Sicherheit, die aus ihr wie die Äste eines Baumes herauswachsen. Wenn ich mich selbst im Spiegel ansehe und die versteckten Züge meiner Mutter in meinem Gesicht entdecke, dann sehe ich diese kalte Unsicherheit, die mich erwartet. Wenn einer zu mir sagen würde: „Ivanka, du siehst aus, wie deine Mutter", dann ist das so als würde jemand zu mir sagen: „Ivanka, du bist zum scheitern verurteilt".

Das ist der Unterschied zwischen ihrer Mutter und meiner Mutter.

Und wenn ich dieses Kind austrage, das in mir heranwächst, dann würde dieses Kind genauso wie ich und meine Mutter und meine Großmutter und womöglich meine Urgroßmutter und meine Ururgroßmutter, die ich nicht kenne, auch scheitern.

Das wäre das Geschenk des Lebens, das ich meinem Kind machen könnte.

12 WochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt