(Die Quadratur des Kreises)

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In Mathe nehmen wir grade Wahrscheinlichkeitsrechnung durch. Es ist das einzige Thema in Mathematik, für das ich mich je interessiert habe. Wahrscheinlichkeiten. Chancen. Risiken. Man kann für jedes denkbare Ereignis eine Wahrscheinlichkeit ausrechnen, wenn man nur die Rahmenparameter kennt. Es ist faszinierend, dass man mit Unsicherheiten und Unwissen rechnen kann. Es ist wie die Quadratur des Kreises, nur schlimmer.

Am meisten fasziniert mich die Berechnung kombinierter Wahrscheinlichkeiten. Die Wahrscheinlichkeit des Einschlags eines Asteroiden innerhalb der nächsten zehn Jahre, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus Versehen einen Atomkrieg auslöst, dass ein Kernreaktor in der näheren Umgebung hochgeht.

„Wenn man davon ausgeht, dass es unendlich viele mögliche Katastrophen gibt", frage ich meinen Lehrer, „liegt dann die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens eine davon eintritt solange man lebt, nicht bei 100%?"

Er lächelt und hebt die Schultern. „Klingt, als sei das ihre Hoffnung, Frau K.", antwortet er. Aber er weiß auch keine Lösung für dieses Problem. Es sei eben eine Zeitfrage, sagt er. Die Wahrscheinlichkeit gehe nur dann gegen 1, wenn man unendlich lange lebe. Hoffentlich nicht.

Und dann natürlich die kleineren Risiken. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Autounfall zu sterben, sich durch ungeschütztem Verkehr anzustecken oder schwanger zu werden, wenn man Sex während seiner fruchtbaren Tage hat und im gebärfähigen Alter zwischen 15 und 35 Jahren ist. Die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, obwohl man die Pille nimmt. Oder die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, wenn man zwar die Pille nimmt, aber eine Magen-Darm Grippe hat oder nach jeder zweiten oder dritten Mahlzeit erbricht, um abzunehmen, weil man eine Affäre mit einem Mann hat, der auf knabenhaft dürre Mädchen steht. Auch das lässt sich berechnen, wenn man die Einzelwahrscheinlichkeiten kennt.

Während der Deutschstunde lesen wir Kafka.

Ich mag Kafka, aber ich hab jetzt keine Zeit für Kafka. Ich bin noch immer emsig mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zugange. Meine Sitznachbarin sieht mich verwundert an, als sie meinen Schreibblock sieht, der sich unter der Überschrift „Das Schloss" mit kraksligen Formeln und Zahlen füllt.

Ich komme zu dem Ergebnis, dass meine Schwangerschaft gar nicht so unwahrscheinlich ist.

Wenn man in der ersten Woche nur einmal die Pille vergisst oder sie mit dem Essen wieder erbricht und sie innerhalb der nächsten 12 Stunden nicht noch einmal einnimmt, ist praktisch der ganze Schutz dahin. Man braucht dann nur noch Sex während seiner fruchtbaren Tage haben (ich sehe in meinem Kalender nach und mache ein Häkchen) eine gesunde Gebärmutter und gesunde Eizellen und einen Sexualpartner mit gesunden Spermien. Dinge, die bei Männern und Frauen in Bens, Jans und meinem Alter, die nicht rauchen mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben sind (ich gehe von 90% aus). Das Ergebnis liegt bei 17,4% unter der Voraussetzung, dass die Einzelwahrscheinlichkeiten (die ich im Internet recherchiere) korrekt sind.

Aber von wem ist das Kind? Von Ben oder von Jan?

Das zu berechnen, ist schwer. Es geht um den Eisprung, der bei ca. 80% aller Frauen zwischen dem 11. Und 15. Zyklustag liegt. „Die Eizelle ist nach dem Eisprung nur für kurze Zeit befruchtungsfähig", steht im Internet, „12 - 18 Stunden haben die Samenzellen Zeit, um die Eizelle zu befruchten." Auf der anderen Seite können die Spermien im Körper der Frau bis zu fünf Tage überleben.

Schrecklich, die Vorstellung, dass die Spermien von Ben und Jan so lange in mir wuseln. In jedem Fall kommen beide als Vater in Frage, weil ich mit beiden zwischen dem 7. und dem 15. Zyklustag ungeschützten Verkehr hatte, mit Ben sogar zweimal am 7. und am 15.

Wenn ich davon ausgehe, dass Ben und Jan die gleiche Anzahl gesunder Spermien produzieren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Ben der Vater ist, doppelt so hoch, weil Ben die doppelte Anzahl an Spermien in mir hinterlassen hat. Andererseits liegt der Sex mit Ben an den Rändern des Zeitfensters meines möglichen Einsprungs, mit Ben hatte ich am 11. Zyklustag Sex.

Jan hatte also auf jeden Fall eine Chance, mich zu schwängern. Ben nicht unbedingt. Wenn mein Eisprung zum Beispiel genau am 13. war, ist Ben als Vater mit hoher Wahrscheinlichkeit raus...

Und dann gibt es noch den Upsuck-Faktor, den ich womöglich berücksichtigen muss. Zumindest dann, wenn ich davon ausgehe, dass mein Eisprung vor oder nach dem 13. Zyklustag lag. Denn der Upsuck-Faktor spricht eindeutig für Ben. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Anzahl der Spermien, die in der Gebärmutter der Frau verbleiben, von der Stärke des Lustempfindens der Frau während des Geschlechtsverkehrs abhängen. Je geringer das Lustempfinden, umso mehr Spermien fließen wieder aus dem Körper.

Aber die Wahrscheinlichkeiten, die ich für Ben oder Jans Vaterschaft berechnen kann, hängen zu stark von den Basiswahrscheinlichkeiten der Einzelereignisse ab, die ich mehr oder weniger willkürlich setzen muss, da es keine präzisen Angaben gibt. Ich tendiere dazu, alles was für Ben als Vater spricht nach oben, und alles, was für Jan als Vater spricht, nach unten zu korrigieren.

Am Ende komme ich zu einer Wahrscheinlichkeit von 70:30 für Ben. Wenn ich die Wirkung des Upsuck-Faktor etwas nach unten korrigiere oder die Wahrscheinlichkeit, dass mein Eisprung um den 13. war, nach oben justiere, lande ich schnell bei einer ganz anderen Zahl, die eindeutig für Jan spricht... Lügen mit Statistik...

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