(Swimming Pool)

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Alles wirkt so routiniert. Die Zeiger der Uhr zeigen 11 und ich frage mich, wie viele Patientinnen heute schon auf diesem Stuhl gelegen haben. Die wievielte Abtreibung sie heute schon durchführen. Heute Abend, wenn er mit seinem gelben Porsche nach Hause fährt, den wir unten in der Tiefgarage auf dem Ärzteparkplatz haben stehen sehen, hat er wahrscheinlich zwischen vier und fünf kleine süße Babys auf dem Gewissen.

Der Anästhesist nicht. Der Anästhesist ist unschuldig. Er ist nur der Handlager. Er hat ein reines Gewissen. Er macht nur, dass es nicht weh tut. Das kommt mir wie ein anständiger Beruf vor. Vielleicht sollte ich diesen Beruf auch ergreifen. Machen, dass es nicht weh tut.

Außerdem hat der Anästhesist diese tiefe, ruhige Stimme, die schon ohne Arznei einschläfernd wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass er seiner Frau zu Hause jeden Abend vorlesen muss, damit sie einschlafen kann. Aber jetzt redet er mit dieser tiefen Stimme mit mir, während er an kleinen Ampullen herumhantiert, die wahrscheinlich nur zur Sicherheit dort stehen, um mich später, wenn es vorbei ist, zurückzuholen, falls ich nicht mehr von allein zurückkomme. Warum auch immer. Falls mein Gehirn beschließt, sich lieber noch eine Weile oder auch für immer aus dieser Welt zurückzuziehen.

Er hat jetzt aufgehört zu reden und sieht sich um. Die wichtigen Dinge macht er ohne seine Stimme. Er nickt dem anderen Arzt zu, der das Gestell, auf dem meine Beine liegen etwas nach außen dreht und feststellt. Dann nickt er der blondierten Sprechstundenhilfe zu, die an irgendwelchen seltsamen Geräten hantiert, die auf einem kleinen silbernen Beistelltischchen liegen, und deren Funktion ich lieber nicht kennen will.

Schließlich erklärt er mir noch einmal kurz den Ablauf für dumme Mädchen und ich bekomme eine durchsichtige Atemmaske über den Mund gestülpt. Er dreht an Hebeln und sagt dann wieder mit dieser tiefen Stimme, mit der er sonst immer seiner Frau vorliest, ich solle die Augen schließen, mich entspannen und von 10 Rückwärts zählen.

Und so schließe ich die Augen, entspanne mich und fange an, von 10 rückwärts zu zählen.

10 ...ich höre das Klappern von Instrumenten und Sezierbesteck, spüre erst etwas Ruppiges und dann etwas sehr kaltes, unangenehmes zwischen den Beinen.

9 ...schon fühle ich mich etwas schwummrig. Eine dämmrige, wärmende Wolke breitet sich in mir aus, als wolle sie mich verschlucken. Erst verschwindet mein Körper, dann meine Fähigkeit, dieses Verschwinden noch zu verstehen. Es wird immer noch dunkler, immer noch schwärzer, die Lider scheinen jetzt hermetisch abgeriegelt, alles fühlt sich seltsam gleich an.

8 ...und dann wird es auf einmal wieder heller. Gleißend hell. Es ist Sommer. Es ist warm, leichter Wind streift durch mein von der Sonne gebleichtes Haar. Ich stehe am Rand eines Sprungbretts am Sprungturm, der nur vom Blau des Himmels umgeben ist. Ich weiß nicht, wie ich dort hingekommen bin. Aber ich fühle mich frei und auch ein bisschen unbeschwert, der Raum scheint so weit geöffnet, so unendlich weit zu sein. Wenn nur das flaue Gefühl in der Magengrube nicht wäre. Aber alles in allem ist es ein gutes Gefühl, eine schwache, homöopathische, mit Adrenalin angereicherte Dosis Glück.

7 ...und dann eine Stimme in der Ferne. Sehr leise. Ein vom Wind verwehter Laut. Jemand ruft mir etwas zu. Irgendjemand ruft, dass ich springen solle. Ich versuche diesen jemand zu lokalisieren. Aber alles ist so hell und alles glitzert und glänzt in der Sonne, ich kann die Augen kaum offen halten. Aber wenn ich die Augen zusammenkneife, wenn ich die Lider zu kleinen Schlitzen forme und die Handfläche schützend über die Stirn halte, sehe ich in der Entfernung Farben und Formen, die zu einer Figur gerinnen und ich glaube, dass Ben diese Figur ist, die ich dort unten stehen stehe. Die dort unten mit einem Schild mit der Aufschrift „Ich liebe Dich" am Rand des blauen Beckens steht.

6 ...das Glück durchströmt mich jetzt in langen Zügen als würde ich frisches kaltes Wasser aus einem großen Becher trinken. Ich trete noch näher an die Kante des Sprungbretts heran, so dass ich mit den Zehen, wenn ich Fäuste damit mache, die Außenkante des angerauten Holzes umschließen kann. Ich bin jetzt bereit zu springen. Unbedingt bin ich bereit. Ich will springen und diese Freiheit genießen. Ich will fliegen, mich in dieses Glück mit meinem ganzen Körper hineinwerfen.

5 ...also gehe ich in die Knie, um Schwung zu holen und das Brett gibt unter der Last meines Körpers nach und federt dann zurück. Aber dann, kurz bevor ich abspringe, kurz bevor ich mich entschließen kann, den Absprung in dieses grenzenlose Glück zu wagen, blicke ich noch einmal in die Tiefe. Ich senke den Lider und ich sehe Ben und davor den Pool. Und dabei fällt mir etwas auf. Im ersten Augenblick weiß ich nicht genau was es ist. Ich weiß nur, dass etwas nicht stimmt. Etwas ist seltsam. Ich weiß nicht, warum, aber auf einmal habe ich dieses seltsame Gefühl.

4 ...es ist kein Wasser im Pool. Er ist leer. Das ist seltsam. Ben steht noch immer dort unten mit dem Schild in der Hand. Wahrscheinlich ruft er noch immer, dass ich springen soll. Aber ich verlangsame jetzt die Bewegung. Ich federe den Sprung wieder ab, pendele die Bewegung des Bretts aus und finde mit einiger Mühe die Balance und komme allmählich zum Stehen. Ich kann nicht glauben, dass er dort unten steht und ruft ich solle springen, obwohl der Pool leer ist.

3 ...schließlich drehe ich den Kopf über die Schulter zurück zum Sprungturm. Ich muss wissen, welche Alternativen es gibt. Ich sehe eine Leiter. Eine Leiter, die wahrscheinlich nach unten führt. Sie sieht etwas wacklig aus, etwas verrostet, aber immerhin eine Option.

2... noch einmal drehe ich Kopf zurück, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht getäuscht habe. Aber der Pool ist wirklich leer. Dort unten glitzern nur ein paar Pfützen auf den hellblauen Fliesen in der Sonne. Dann hebe ich die Augen, sehe zu Ben und schüttle den Kopf, vielleicht auch nur innerlich, vielleicht nur für mich selbst, aber für mich selbst schüttle ich den Kopf und wende mich von Ben ab.
Es ist schmerzhaft das zu tun. Es tut richtig weh. Selbst jetzt wo ich weiß, dass der Pool leer ist, tut es weh. Wahrscheinlich schmerzt es in diesem Moment mehr als es schmerzen würde, wenn ich in den trockenen Pool springen würde. Aber ich tu es trotzdem. Ich bin enttäuscht von Ben. Ich drehe mich um und gehe zurück zum Sprungturm und klettere auf die Leiter und steige Sprosse für Sprosse, Absatz für Absatz hinunter.

1 ...Ich muss unbedingt wissen, wie diese Geschichte endet, denke ich, während ich die Leiter hinuntersteige, die endlos erscheint. Es geht immer weiter, durch Wolken, durch wärmenden Nebel und sonnige Abschnitte, durch Sturm und Hagel. Ich muss unbedingt wissen, wie diese Geschichte endet. Ich werde sie fragen, wenn ich unten angekommen bin.

[Ende]

12 WochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt