(L'art pour l'art)

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Es wird unruhig jetzt. Aus den Tragflächen haben sich kleine Bleche geschoben, die Luftwirbel produzieren und das ganze Flugzeug in Aufruhr versetzen. Wahrscheinlich ein Routinevorgang während des Landeanflugs.

Der Typ im grauen Jackett, der neben mir sitzt, scheint sich jedenfalls nichts daraus zu machen. Er ist nur genervt, dass er die Mail, an der er geschrieben hat, nicht mehr zu Ende schreiben kann, weil jetzt seine Finger über der Tastatur zu tanzen begonnen haben. Also klappt er das matt-silbrige Laptop mit den milchgläsernen Tasten zu, packt es in eine eigens dafür vorgesehene Tasche, die er unterm Sitz verstaut und lehnt sich zurück und schließt die Augen und entspannt.

Ich dagegen kann mich überhaupt nicht entspannen.

Ich rechne jeden Moment damit, dass die Strömung abreißt und wir ins Bodenlose stürzten. Vielleicht liegt das daran, dass ich noch genug Fantasie habe, um mir den Absturz in allen Einzelheiten auszumalen. Der Typ in dem grauen Anzug hat das wahrscheinlich nicht mehr. Oder ich bin eben so panisch veranlagt, dass ich immer gleich an das Schlimmste denke und mir nicht vorstellen kann, dass Dinge auch glimpflich ausgehen können. Dass man mit Unsicherheiten umgehen kann.

Wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich diesen Moment der absoluten Panik vor mir. Diesen Moment, in dem es kein Halten mehr gibt. Nichts, dass diesen Fall noch bremsen, geschweige denn aufhalten, könnte. Ich sehe wie Teile wegbrechen, wie sich der Boden unter uns öffnet und wie wir dann schlagartig Fahrt aufnehmen.

Ich stelle mir diesen Moment wie eine Gewissheit vor. Es ist der Moment, in dem die Unsicherheit gegen unendlich strebt. Vielleicht setzt danach so etwas wie Entspannung ein, ganz bestimmt sogar.

Wenn nichts mehr auf dem Spiel steht, alle Karten auf dem Tisch liegen, das Chaos herrscht, vielleicht kann ich dann entspannen. Vielleicht kann ich dann das flaue Gefühl in meinem Magen endlich genießen und diesen Moment, in dem diese Feuerwalze auf uns zurollt. In dem das ganze Flugzeug in Flammen steht während aus der Kabinendecke noch vorschriftsmäßig nach EU-Norm die Atemmasken fallen.

Und dann dieser allerletzte Moment. Dieser aller-aller-letzte Moment.

Ich stelle mit diesen allerletzten Moment als etwas sehr Schönes vor. Ich glaube, dass dieser letzte Moment eine verborgene Schönheit in sich trägt. Ein Kunstwerk. Es ist wie die Schwärze bei Pierre Soulages. Wie die Erinnerung an eine Zukunft, die es nicht mehr geben wird.

Und dann Ruhe. Absolute Stille. Wie in einer Kirche, kurz bevor die Schwere des anklingenden d-Molls der Orgelpfeifen in den Raum und auf die Gemeinde drückt wie eine reale göttliche Kraft. Aber dieses d-Moll, diese Kraft, kommt dann eben nicht mehr. Das ist der Unterschied. Weil es das d-Moll dann nicht mehr geben wird.

Nach diesem Moment gibt es kein d-Moll mehr. Es gibt dann nicht einmal mehr das Wissen, dass es ein d-Moll jemals gegeben hat. Nicht einmal eine Ahnung von diesem d-Moll wird es geben oder von Bach, von Toccaten, Fugen, oder Göttern.

All das geschieht dann nicht mehr:

(1) Es gibt dann keine dampfenden Wrackteile, die auf einem Acker irgendwo vor München wie abstrakte Skulpturen in der Sonne glitzern.

(2) Es gibt dann keinen Köper mehr, der meine Physiognomie hat, der wie der einer leergesaugten, seelenlosen Puppe aussieht, verkohlt, an einen Sitz gegurtet und darauf wartend, von irgendjemandem entsorgt zu werden.

(3) Es gibt dann nicht mehr diese Zukunft, die ich jetzt noch vor mir sehe. Nicht die Trauergemeinde, nicht die Kerzen und Kränze mit meinem Namen, die die Schule und vielleicht meine Klasse, in jedem Fall aber die Fluggesellschaft, weil sie dazu verpflichtet ist, spendiert haben.

(4) Auch meine beste Freundin, die bittere Tränen vergießt, gibt es dann nicht mehr. Dabei würde ich sie so gerne trösten, ihr so gerne sagen, dass sie nicht traurig sein muss. „Es ist alles sehr schnell gegangen", würde ich ihr sagen, während ich ihre Hand hielte, „und der Tod ist eigentlich kein Ding. Der Tod ist kein Ding..." Das würde ich ihr sagen. Das hört sich in diesem Moment vernünftig für mich an, das zu sagen. Er komme einfach so über einen und verschlucke einen wie eine dunkle weiche Wolke. Ohne dass es wirklich weh tue. Obwohl ich das natürlich nicht wissen kann, ob es wirklich so ist... Vielleicht ist es auch ganz anders.

Jedenfalls wird es diese Geschichte dann nicht mehr geben. Aus dem einen oder anderen Grund wird es diese Geschichte nicht mehr geben. Eher aus dem einen als aus dem anderen Grund wahrscheinlich. Eher aus dem Grund, weil es eine andere Geschichte geben wird und nicht aus dem Grund, weil es keine Geschichte mehr geben wird, wie ich insgeheim hoffe.

Denn als ich die Augen wieder öffne, holpern wir noch immer durch die Luft wie ein zu hart gefederter Sportwagen über einen Feldweg. Und der Typ, der neben mir sitzt, der mit dem weggepackten Laptop, wirkt noch immer gelangweilt entspannt. 

Ich merke, dass ich jetzt leicht sauer auf ihn bin. Es ist wahrscheinlich albern, aber es ist so und wahrscheinlich ist es, weil ich glaube, dass er das mit Absicht macht. Dass er mit Absicht so demonstrativ entspannt ist, nur um mir zu demonstrieren, wie falsch ich gelegen habe, wie falsch meine kleine hübsche Fantasie gewesen sei, und dass er das schon immer gewusst habe.

Und wirklich. Dieses blecherne Ungeheuer will und will nicht abstürzen. Nicht einmal im Ansatz. Es ist ein sturer Bock!

Jedes noch so hinterhältige Luftloch quittiert es mit einer beherzten Gegenbewegung. Jeder Trick der Thermik wird vorweggenommen und sachgemäß ausgeglichen. Manchmal surrt es, manchmal schnurrt es, manchmal schwankt es wie ein Schiff bei mäßigem Wellengang und manchmal vibriert oder scheppert es. Aber kurze Zeit später setzen wir mit einem gedämpften Schlag, gefolgt von einem Rattern auf der Piste auf und werden dann von der Wirkung der Bremse in unsere Gurte geworfen.

Es ist wie ein Wunder. Und schon frag ich mich, was dieses Flugzeug mir eigentlich mitteilen will. Und vor allem frag ich mich, ob es mir überhaupt etwas mitteilen will, oder ob ich nicht vollkommen darauf fixiert bin, in allem und jedem ein Zeichen zu sehen. Allem und jedem Bedeutung beizumessen, gerade so als habe die Welt nichts Besseres zu tun, als mir - der achso-wichtigen Ivanka - ständig irgendwelche Zeichen zu senden.

Nach dem Ausstieg, als der Typ mit dem weggepackten Laptop die Rolltreppe nimmt, drängle ich mich an ihm vorbei und schneide ihm den Weg vor der Schwenktür ab, die zum Ausgang führt. Er sieht mich merkwürdig an und ich lache in mich hinein.

Zum Glück bin ich jetzt erwachsen.

12 WochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt