(Eine Geschichte)

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Vor dem Fenster schweben jetzt ein paar bauschige weiße Schäfchenwolken und in der Entfernung thronen die Gipfel der Alpen, die sich mit dem Himmel zu einem gigantischen Vorhang vereinen, der Österreich von Italien trennt.

Wenn ich auf diese blauweiß melierte Wand schaue, beginnt mein Gedächtnis zu arbeiten und ich beginne, mich an Begebenheiten zu erinnern.

Ich erinnere mich an Urlaubstage in Italien. An Bozen, Mailand, Rom und Neapel. Ich erinnere mich an Strandpromenaden, an Hafengeräusche, an sanfte Wellen, die an Bootsrümpfe schlagen und klapperndes Tauwerk. Ich erinnere mich an sandweiße Strände in Apulien, an denen es nach Meer, Minze und Zitronen duftet.

Ich frage mich manchmal, während ich auf diese unbestimmte, nur eingebildete Wand am Horizont blicke, ob diese Dinge, an die ich mich erinnere, jemals wirklich geschehen sind. Ob das Dinge sind, die es gegeben hat. Oder ob ich mir das alles nur zusammengereimt habe.

Ich weiß nicht, zu welcher Zeit man anfängt, ein Mensch mit einer Identität zu sein. Wann man das erste Mal am morgen erwacht und sich wie eine Ivanka oder wie eine Julia oder Judith oder Johanna fühlt.

Bei mir muss dieser Moment irgendwo in dieser Zeit liegen. Irgendwo in der Zeit, in der ich mich daran erinnere, dass ich mich an mich selbst erinnern kann. Vielleicht ist es meine eigene Geschichte, die ich begonnen habe, mir zu erzählen, die mich zu dem macht, was ich bin.

Also erzähle ich mir meine Geschichte:

...ich erzähle mir die Geschichte eines hochgewachsenen Mannes, der mein Vater sein könnte, der wie mein Vater aussieht, der vor der Kulisse eines bewegten Meeres durch den Sand streift.

...ich erzähle mir die Geschichte einer glücklichen Frau, die meine Mutter sein könnte, die wie meine Mutter aussieht, die auf einer pastellfarbenen Decke am Strand liegt. Mit einer großen Sonnenbrille und einem weißen Bikini, mit nach Sonnenöl duftender braungebrannter Haut. Sie ist auf die Ellbogen gestützt und lächelt meinem Vater zu, der sich ihr langsam nähert und ihr dann mit den Fingern liebevoll ein paar blondierte sandverkrustete Strähnen aus dem Gesicht streicht, um ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken.

...ich erzähle mir die Geschichte einer Realität. Die Geschichte von Geräuschen, Bildern, Eindrücken und Abläufen, die Geschichte entrückter Gefühle oder die Geschichte meines Spiegelbilds, das vielleicht gar kein Spiegelbild, sondern ein Foto ist, an das ich mich erinnere. Ein Foto, das meine Mutter beim Umzug verloren hat und das jetzt in irgendeiner Kiste in irgendeinem Keller verwest.

Ich weiß nicht, ob diese Geschichte, die ich mir erzähle, jemals stattgefunden hat. Vielleicht ist sie nur das Produkt meiner Fantasie. Vielleicht ist meine ganze Identität nur eine irrsinnige Geschichte, die sich ein irrsinniges Mädchen irgendwann ausgedacht und zu erzählen begonnen hat. Eine Geschichte von der es jetzt nicht mehr loskommt. Vielleicht sollte ich mir eine andere Geschichte ausdenken und mir eine andere Geschichte erzählen.

Aber wahrscheinlich habe ich gar keine andere Wahl gehabt. Ich habe keine andere Wahl gehabt, als mir genau diese Geschichte zu erzählen. Als zu einem Lebewesen zu werden, dass sich genau diese Art von Geschichte, vielleicht sogar ganz genau diese eine Geschichte erzählt.

Eine andere Geschichte ist mir eben nicht eingefallen.

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