(Klinisch)

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Ein helles mit weißen Fließen gekacheltes Zimmer. Im Hintergrund das leise Surren eines Ventilators. Vom Flur dringen gedämpfte Geräusche. Stimmen, Schritte, sich öffnende und schließende automatische Türen. Wenn ich die Augen öffne, kann ich wahlweise in das Zahnschmelzweiß der Leuchtstoffröhren an der Decke blicken oder in das strahlende Blau der Augen meiner besten Freundin.

Seit ich ihr davon erzählt habe, gleich nach ihrer Rückkehr aus Südfrankreich, ist meine Freundin nicht mehr von meiner Seite gewichen. Und als wir uns das erste Mal wieder getroffen haben, hat ihr Haar noch nach dem Harz der Fichten gerochen wie ihr Brief.

Wir haben lange geredet. Sie hat sich alle Zeit der Welt für mich genommen und wir haben fast die ganze Nacht, bis die Sonne aufging, geredet und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass ich diese Abtreibung durchführen muss. Auch wenn das eine harte Entscheidung ist und auch wenn mein Körper mir manchmal etwas anderes sagt. Ich dürfe mein Leben nicht aufgeben, sagt sei, ich dürfe mich nicht für dieses Kind opfern.

Und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir nächstes Jahr, wenn wir die Schule hinter uns gebracht haben, gemeinsam in eine andere Stadt ziehen werden. Wir werden zusammenziehen und wir werden aufeinander aufpassen. Das hat sie mir versprochen. Und ich werde versuchen aus meinen Fehlern zu lernen. Ich solle glücklich werden, aber ich darf nicht mehr in Abgründe springen. Das habe ich ihr versprochen.

Und natürlich ist sie mitgekommen als es dann soweit war.

Sie hat mich mit dem Auto ihrer Mutter, einem kleinen alten Renault, in die Klinik gefahren und sie bringt mich später, wenn es vorüber ist, wieder nach Hause. Und gestern Abend hat sie mir vor dem Ins-Bettgehen noch eine Gesichte aus einem Buch vorgelesen und sich dann zu mir gelegt und mich in den Arm genommen als seien wir beide die Mutter dieses Kindes. Irgendwann in der Nacht habe ich gehört wie sie leise geweint hat. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingeredet.

Sie hat mir aus dem gleichen Buch vorgelesen, das sie im Urlaub gelesen hat. Und sie hat darin gelesen, als ob sie jedes einzelne Wort selbst geschrieben hätte. Es ist ein schönes Buch, eine Kurzgeschichte, eine Liebesgeschichte, die in einem angenehmen beiläufigen Ton erzählt wird, so als sei diese Geschichte nur eine Randnotiz.

Aber ich weiß nicht, wie diese Liebesgeschichte ausgegangen ist. Ich bin eingeschlafen, bevor sie zu Ende war. Obwohl ich lange versucht habe, gegen den Schlaf anzukämpfen, die Augen offen zu halten, weil ich wissen wollte, wie sie endet. Aber irgendwann sind mir die Lider so schwer geworden und ich bin einfach in diesen dämmrigen Zustand geglitten und von dort aus in einen tiefen ruhigen traumlosen Schlaf.

Wahrscheinlich hat sie sogar die Decke über mich gezogen nachdem ich eingeschlafen bin, wie man das bei einem kleinen Kind tut, und hat dann das Licht gelöscht.

Als ich wieder aufgewacht bin, am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen in kleinen ausgefransten Punkten durch die Jalousien auf unsere Decken fielen, waren ihre leuchtenden Augen das erste, was ich gesehen habe. Ich habe in ihre Augen gesehen und diese dunklen Sprenkel gezählt, die sich dorthinein wie Sommersprossen verirrt haben.

Ich wollte sie vor dem Eingriff noch fragen, wie die Geschichte ausgeht. Aber beim Frühstück, als wir Kaffee und Saft tranken, habe ich es vergessen. Und als wir dann im Auto waren, war ich zu aufgeregt. Und auch jetzt habe ich die Gelegenheit verpasst. Denn schon höre ich die lauter werdenen Schritte und dann das Geräusch einer sich öffnenden Tür. Zwei Ärzte und eine Sprechstundenhilfe betreten das Zimmer und schicken meine Freundin hinaus.

Sie drückt mir noch einmal die Hand, flüstert mir etwas zu und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann geht sie.

12 WochenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt