(Brief 1/2)

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Als ich zurück aus München in der Parterre-Wohnung meiner Mutter in Dortmund bin, liegt ein Brief auf meinem Bett. Ein weißer Umschlag, beschriftet mit meinem Namen und meiner Adresse und beklebt mit einer französischen Briefmarke, auf der Jeanne d'Arc zu sehen ist.

Ich öffne ihn mit einem silbrigen Messer, das neben meinem Schminkspiegel liegt und nehme die beiden gefalteten Din A4 Blätter heraus, die auf der Vor- und Rückseite beschrieben sind und fange an zu lesen.

Sie schreibt mir aus dem Urlaub. Seit mehr als zwei Wochen ist sie nun schon weg. Sie ist mit ihren Eltern und mit Bekannten ihrer Eltern nach Südfrankreich an die Côte d'Azur gefahren. Sie fahren jedes Jahr in ein Haus mit Garten und Pool in der Nähe von Menton, das sie mieten und verbringen jedes Jahr mindestens zwei, meist drei Wochen in diesem Haus, um sich zu erholen.

Meine beste Freundin schreibt von kleinen Eidechsen, die sich auf den Natursteinen im Garten der Sonne hingeben. Sie schreibt von Schattierungen von Blau und Grün und Silber, von Spiegelungen in der Luft und von Reflexionen des Lichts im Pool. Hingebungsvoll beschreibt sie mir die Gräser und die Beschaffenheit der Blüten der Blumen, die im Garten in den verschiedensten Farben sprießen, vom Zirpen der Grillen am Abend schreibt sie und vom schlanken Körper des Monds, der so tief im dunkelblauen Himmel hängt, dass sie meint, ihn mit der Hand greifen zu können.

Es ist ein so schöner, so verdammt zärtlicher Brief, dass ich ihn immer wieder lese. Wenn ich mit dem letzten Satz fertig bin, fange ich vorne wieder an und wünsche mir, dass dieses Gefühl nie verschwindet. Aber so oft ich ihn auch lese während ich auf meinem Bett sitze und sie mir an meiner Seite wünsche, so oft ich die Blätter wende und die Ligaturen, die Wörter und Zeilen verschlinge, die mir wie kleine Verästelungen ihres Wesens vorkommen, so verstehe ich doch nicht was dieser Brief eigentlich bedeutet. Ich weiß es nicht, was er bedeutet. Was will sie mir mitteilen?

Vielleicht bin ich auch einfach zu verbohrt, um zu verstehen, was sie mir eigentlich sagen will. Oder ich bin zu verbohrt, um mir einzugestehen, dass ich sehr wohl verstehe, was sie mir eigentlich sagen will, und dass ich sehr wohl verstehe, dass ich für das, was sie mir sagen will, sehr wohl empfänglich bin.


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