(Brief 2/2)

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In der Nacht liege ich lange wach und denke über meine Freundin nach. Und als ich am nächsten morgen erwache und mir mal wieder schlecht ist, denke ich an meinen Freund. Ich denke an Jan.

Ich denke daran, wie Jan und ich uns damals in der Schule kennengelernt haben. Er war der erste Junge, mit dem ich geschlafen habe und ich war das erste Mädchen, mit dem er geschlafen hat. Wir waren damals ziemlich verunsichert, alle beide, weil das alles ganz anders abgelaufen ist, als wir uns das wahrscheinlich vorgestellt haben. Es war nicht wie im Film, nicht wie in den Vidoclips, die wir kannten. Es war so furchbar intim und beschämend und seltsam.

Und wahrscheinlich hat uns diese Unsicherheit und diese gemeinsame Erfahrung für eine gewisse Zeit zusammengehalten. Ich glaube, dass es für uns beide gut war, dass wir in dieser Zeit zusammen waren. Ich könnte mir keinen besseren vorstellen, mit dem ich zum ersten Mal hätte Sex haben wollen.

Danach haben wir diese Abmachung getroffen. Wir haben verabredet, dass wir nie darüber mit anderen sprechen werden. Nicht darüber, wann es geschehen ist und nicht wie es geschehen ist. Und auch nicht, was wir davor und währenddessen und danach miteinander geredet haben. Und ich werde mich daran halten. Ich glaube, er wird das auch tun. Im Rückblick betrachtet, war das eine sehr kluge Entscheidung. Wir haben einen Teil des Zaubers dieser Phase unseres Lebens vor dem Verfall bewahrt, ein Bild geschaffen, das man in ein Album kleben und dann auch in ein paar Jahren noch ohne Reue ansehen kann, ohne an den ganzen Rest denken zu müssen.

Denn über die fast drei Jahre hinweg, in denen wir zusammen waren, sind Jan und ich sehr verschieden geworden. Wahrscheinlich waren wir von Anfang an sehr verschieden. Nur hat sich diese Verschiedenheit über die Zeit hinweg immer stärker herausgebildet. Und jetzt ist diese Verschiedenheit so offensichtlich, dass ich nicht mehr darüber hinwegsehen kann.

Jan hat wahrscheinlich schon immer gewusst, was für ein Mensch er ist und was für ein Mensch er werden will. Von Anfang an. Ich habe das nie gewusst. Selbst jetzt habe ich keine Ahnung, was für eine Art Mensch einmal aus mir werden wird, geschweige denn was für eine Art Mensch ich bin. Ich habe vielleicht eine vage Vorstellung davon, wohin die Reise gehen könnte. Eine Befürchtung, wenn ich in den Spiegel sehe und die Züge meine Mutter in meinem Gesicht entdecke. Und eine Hoffnung, wenn ich den Brief meiner Freundin lese. Aber mehr auch nicht.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, frage ich mich manchmal, wie zwei so unterschiedliche Menschen wie Jan und ich jemals so lange haben zusammen sein können.

Es ist gut möglich, dass er mir eine Zeitlang die Sicherheit gegeben hat, die ich von meinen Eltern nach ihrer Trennung nicht bekommen habe. Und wahrscheinlich hat es auch keinen richtigen Anlass gegeben, diese Beziehung aufzulösen. Von anderen haben wir immer gehört, dass wir so gut zusammenpassen würden, dass sie sich gar nicht vorstellen könnten, dass wir jemals nicht zusammen sein könnten.

Aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, dann hat diese Beziehung zu Jan als Liebesbeziehung für mich nie so richtig existiert. Jan ist immer der Freund von damals geblieben, den ich schon aus der Grundschule kannte. Wahrscheinlich habe ich ihm deshalb auch so viel Freiraum geben können. Und wahrscheinlich ist er deswegen immer wieder zu mir zurückgekehrt, auch wenn er zwischenzeitlich etwas mit anderen Mädchen gehabt hat, weil er sich nach diesem unbestimmten kindlichen Gefühl zurückgesehnt hat, dass er in meiner Gegenwart empfindet.

Aber seit ich Ben kenne, ist mir klar, dass diese Beziehung zwischen Jan und mir eine Sache ist, die der Vergangenheit angehört. Ich habe mir das lange Zeit nicht eingestehen wollen. Ich habe mir eingeredet, dass Jan und ich eine Zukunft haben, weil auf den ersten Blick nichts dagegen spricht, dass wir eine Zukunft haben. Er ist nett, er sieht gut aus, er hat gute Manieren und er ist gut in der Schule und bestimmt wird er irgendwann einen Studienabschluss machen und einen Job bekommen und Geld verdienen und dann eine Familie gründen. Er wäre der perfekte Mann für eine Frau, die Sicherheit im Leben braucht.

Aber das sind alles Dinge, mit denen ich nichts mehr zu tun haben werde. Ich werde das alles vielleicht aus der Entfernung beobachten. Ich werde vielleicht irgendwann diese andere Frau kennenlernen, mit der er das tun wird. Bei seiner Hochzeit oder der Taufe seines Kinds eingeladen sein. Es wird vielleicht noch eine Weile dauern, aber nicht allzu lange. Er wird diese Frau finden und sie werden für eine gewisse Zeit glücklich sein oder auch für sehr sehr lange Zeit. Ich wünsche ihm das.

Aber spätestens seit ich weiß, dass ich schwanger bin, weiß ich, dass ich auf gar keinen Fall die Frau sein werde, die dieses Kind von Jan zur Welt bringt, und dass ich auf gar keinen Fall noch länger mit Jan zusammen sein möchte.

Ich möchte nicht mehr mit ihm schlafen. Ich möchte nicht mehr neben ihm schlafen. Nicht mehr nachts aufwachen, wenn er Alpträume hat, weil er schlechte Noten bekommen hat, und ich möchte nicht mehr händchenhaltend durch die Stadt mit ihm gehen. Ich möchte eigentlich überhaupt nicht mehr neben ihm durch die Stadt gehen, weder händchenhaltend noch sonstwie.

Und ich werde das alles vermissen. Sehr sogar. Ich bin sehr nostalgisch und ich werde die Ivanka vermissen, die das einmal getan hat und die damit auf eine bestimmte Weise glücklich war. Auch wenn ich das jetzt vielleicht nicht mehr verstehe, warum ich das getan habe und wie ich damit glücklich sein konnte.

Jetzt möchte ich das nicht mehr.

Also schreibe ich diesen Brief an Jan. Ich schreibe diesen Brief, der irgendwann nach seiner Rückkehr aus seinem Urlaub aus Katalonien auf seinem Bett liegen wird, so wie der Brief meiner Freundin auf meinem Bett gelegen hat. Er wird traurig sein, wenn er diesen Brief liest. Vielleicht wird er mich anrufen oder mir zurückschreiben. Vielleicht wird er mich bitten, dass ich mir das noch einmal durch den Kopf gehen lasse und mich an all unsere gemeinsamen Erlebnisse erinnern. Aber ich bin mir sicher, dass er es am Ende verstehen wird. Wenn er in sich hineinhört, wenn er das kann: in sich hineinhören, dann wird er es verstehen. Obwohl ich nicht weiß, ob er das kann.


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