The truth about the monster

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Nach diesem Satz betraten wir mein Haus und gingen hinauf in mein Zimmer. Mein Herz hatte für ein paar Sekunden nach Namjoons Aussage ausgesetzt und ich dachte, dass ich mich verhört hätte, doch nein, ich hatte richtig gehört. Namjoon wollte mir nun, zwar nicht als erster, aber als Person, die Yoongi am besten kannte, erzählen, was damals passiert sein musste, damit Yoongi zu seinem Namen kam.
'Wo fange ich am besten an.'
Er fuhr sich durch seine schwarzen Haare, während er die Augen geschlossen hatte und zu überlegen schien. Ungeduldig wartete ich darauf, dass er fortfuhr, aber ich wollte ihn auch nicht drängen. Wenn mir jetzt noch etwas zwischen die Wahrheit und mir kommen würde, würde ich meine Faust gegen meine Wand schmettern.
Namjoon hatte auf meinem Schreibtischstuhl Platz genommen und ich saß ihm auf meinem Bett gegenüber und lauschte gebannt jedem einzelnen Wort, was über seine Lippen kam.
'Weißt du, Yoongi war nicht immer so, wie er jetzt ist. Ich kenne ihn seit der Grundschule.
Er war früher ein aufgeschlossenes Kind, sehr kontaktfreudig und immer mit einem Lächeln im Gesicht. Ich glaube es gab nur wenige, die damit mithalten konnten. Er verstand sich mit jedem aus seiner Klasse, auch später noch, als wir auf unsere jetzige Schule gewechselt sind. Ja, ich denke, es ist nicht untertrieben, wenn ich behaupte, dass Yoongi sehr beliebt war.'
Er legte eine Kunstpause ein, um seine bisherigen Worte auf mich wirken zu lassen.
'Das ist fast gar nicht zu glauben.', kommentierte ich seine bisherige Erzählung leise murmelnd und er nickte zustimmend.
'Ich weiß, Yoongi wirkt heute ganz anders. Das hat auch seine Gründe, wie du gleich erfahren wirst. Zu dieser Zeit war Yoongi mit Taehyung befreundet, sie waren sogar seit dem Kindergarten zusammen und waren unzertrennlich. Damals hatte Yoongi viel mehr Zeit mit ihm als heute mit mir verbracht. Man hätte beinahe meinen können, dass sie Brüder waren, denn man begegnete ihnen fast nur zusammen.
Jedenfalls hat das, weswegen sie ihn Monster nennen, seinen Anfang vor zwei Jahren.
Yoongi stand damals in der Klassenhierarchie mit ganz oben, wurde von allen am Morgen gegrüßt, die Mädchen himmelten ihn an, und seine Noten konnten sich sehen lassen. Die Leute mochten ihn, auch die Lehrer, jeder eigentlich.
Aber manchmal braucht es nur Sekunden, um ein Leben entscheidend zu verändern, um einen Menschen für den Rest seines eigenen zu prägen.
Und es schleicht sich an. So leise, dass du es weder kommen hörst, geschweige denn siehst. Denn, von heute auf morgen, begannen einige Schüler aus seiner Klasse plötzlich, ihn zu mobben. Dabei gab es nicht mal einen ersichtlichen Grund dafür, lass es pure Willkür gewesen sein, oder was auch immer, aber Yoongi war nie negativ aufgefallen. Das machte das Ganze ja so seltsam. Es machte einfach keinen Sinn, dass sie sich gerade ihn aussuchten, und das auch bald Schüler aus oberen Klassen dabei mitzogen.
Sie fingen an, Gerüchte über ihn zu verbreiten, seinen Spind aufzubrechen und seine Sachen zu zerstören, und ihn auch körperlich zu bedrängen.
Sie beschimpften ihn als Bastard, da seine Mutter eine außereheliche Affäre hatte. Er hatte ihr das nie verziehen, und so daran erinnert zu werden, machte das Ganze nicht besser. Dabei war er aber wirklich der Sohn seines Vaters, was ihm die anderen Schüler aber niemals glaubten.
Es blieb nicht nur bei Worten. Wenig später folgten auch körperliche Übergriffe.
Einmal schlugen sie ihn so sehr zusammen, dass er für mehrere Tage ins Krankenhaus musste, nichtsdestotrotz kam er wieder zur Schule und ertrug das Ganze still.
Das war richtig hartes Mobbing.'
Namjoon befeuchtete seine Lippen, gab mir etwas Zeit, um über seine bisherigen Worte nachdenken zu können, und in meinem Kopf sah ich alles bildlich vor mir. Wie sie mit ihm umgesprungen sein mussten und ihn behandelt hatten. Wie Dreck, wie jemand, der es nicht verdiente, mit Respekt behandelt zu werden. Ich musste mir auf die Wange beißen, damit ich meine Fassung bewahren konnte, denn das, was Namjoon mir schilderte, berührte etwas in mir.
Und mit der Berührung, kam die Wut.
'Ich hätte alles getan, um ihm zu helfen, aber..er schwieg. Keine Ahnung, ob ihm das peinlich war, aber er hätte zumindest mit mir darüber sprechen können.
Als ich dann Wind davon bekam, weil sie auch dann damit anfingen, ihn zu mobben, wenn er bei mir war, versuchte ich dazwischenzugehen.
Aber als einzelne Person konnte ich nicht so viel tun, wie ich es mir gewünscht hätte, dafür waren es zu viele. Ich wusste, dass Yoongi nicht wollte, dass ich mit dieser Geschichte zu einem Lehrer ging, und dennoch tat ich es, aber – niemand reagierte. Ich sprach seinen Klassenlehrer darauf an, aber er tat es nur als pubertäres Verhalten unter Jugendlichen ab, sagte, dass es normal wäre. Auch auf mein Flehen hin, dass es Yoongi dadurch nicht gut gehen würde, und er dem bitte ein Ende setzen sollte, reagierte er nicht. Als ich ihm damit drohte, zum Direktor zu gehen, wurde er jedoch unruhig und versicherte mir, dass er sich darum kümmern würde, und ich war auch noch so naiv, ihm Glauben zu schenken.
Es ging Monate so weiter. Sie ließen ihn nicht in Ruhe, stattdessen wurde es zunehmend schlimmer und sie testeten immer weiter ihre Grenzen aus.
Und in der gesamten Zeit tat Taehyung nichts. Er sah dabei zu, wie die anderen ihn zu brechen drohten und er griff kein einziges Mal ein, und ich kannte den Grund damals wie heute dafür nicht.
Ich versuchte, sie von Yoongi fernzuhalten, was mir in den Pausen zwar gelang, jedoch nicht im Unterricht. Auf mein Bitten, die Klasse wechseln zu dürfen, folgte nichts und es machte mich sauer, dass von den Leuten, von denen man erwarten sollte, dass sie etwas taten, niemand sich auch nur ein bisschen dafür interessierte. Niemand schenkte dem Beachtung.'
Namjoon hielt inne, versuchte wahrscheinlich, seine Gedanken zu sammeln, sodass ich diese kleine Pause nutzte, um eine Frage in den Raum zu werfen.
'Hat Yoongi seinen Eltern davon erzählt?'
Er schüttelte den Kopf.
'Nein..weißt du, ab einem bestimmten Zeitpunkt verschlechterte sich sein Verhältnis zu ihnen. Schon damals war er eigen gewesen, und das missfiel seinen Eltern sehr. Sie wollten Yoongi in eine Richtung drängen, die ihm überhaupt nicht zusagte, und das ließ er sie wissen. Das wiederum führte dazu, dass sie ihm ihre Missgunst auch deutlich zeigten.
Und was willst du bitteschön machen, wenn dein letzter Zufluchtsort – dein Zuhause – für dich auch nicht mehr sicher ist..was bleibt dir dann?
Das mit seinen Eltern wusste ich fast von Anfang an. Ich hatte es selbst mitbekommen und auch, wenn er so gut wie nie darüber sprach, merkte ich, wie sehr es ihn belastete. Zu dieser Zeit hatte er oft bei mir geschlafen, um wenigstens etwas Ruhe zu haben.
Aber ich konnte seinen Eltern wohl schlecht sagen, wie sie mit ihm umzugehen hatten, denn welcher Erwachsene hört schon auf einen Teenager, vor allem dann, wenn es um das eigene Kind geht?
Sie waren in keinerlei Hinsicht eine Stütze für ihn.
Jimin, wir hätten damals eine höhere Instanz gebraucht, aber als ich ein Gespräch mit dem Direktor verlangte, wurde es mir ausgeschlagen. Ich war kurz davor, einfach in sein Büro zu stürmen und ihm die Fakten auf den Tisch zu knallen. Jedoch war es mir nicht möglich.
Alles, was ich machen konnte, war, Yoongi so gut es ging vor seinen Peinigern abzuschirmen und ihm gut zuzureden, ihm in dieser schwierigen Zeit beizustehen.
Frag mich nicht warum, aber aus irgendeinem Grund wollte er keinen Schulwechsel. Ich schlug es ihm so oft vor, aber jedes Mal wieder lehnte er diese Möglichkeit ab.
Und dann, irgendwann nach mehreren Monaten, war ein Punkt gekommen, an dem es ihm wohl endgültig reichte.
Ich war nicht dabei, als es passierte, ich weiß das Geschehene nur von Erzählungen. Die Leute meinten, dass er damals, mitten in der Stunde, vollkommen ausgetickt wäre. Er soll, ohne eine Anmerkung vorher, explodiert sein, sie bis aufs Letzte beleidigt haben, auf seine Mitschüler losgegangen sein und sie so heftig verprügelt haben, wie sie es damals mit ihm getan hatten. Der Lehrer griff nicht ein. Wieso auch, er hatte es vorher auch nicht getan.
Doch was erwartet man, wenn man ein Tier in die Enge treibt und ihm jedes Mal wieder Schmerzen zufügt?
Yoongis Wut und Hass brauchten lange, bis sie abgeflacht waren, und als er dann mit ihnen fertig war, stürmte er aus dem Klassenzimmer und verließ sofort die Schule.
Aber damit fand das alles nicht sein Ende.
Seine Mitschüler, die er angegriffen hatte, beschwerten sich lautstark bei der obersten Instanz, die WIR gebraucht hätten, und dann taten sie auch etwas.
Wie ungerecht war das bitte? Das sie auf einen Einzelnen nicht hörten, sondern erst aufhorchten, wenn mehrere Stimmen laut wurden?
Ab da nannten sie ihn Monster. Flüsterten hinter hervor gehaltenen Hand, dass er ein Tyrann wäre, andere Schüler unterdrücken würde.
Doch das die Schuld eigentlich bei ihnen lag, das sahen sie nicht. Das wollten sie nicht sehen. Sie wollten sich nicht eingestehen, dass sie für ihre Tat selbst verantwortlich waren und ab einem bestimmten Zeitpunkt die Konsequenzen dafür tragen mussten.
Er wurde für mehrere Wochen der Schule verwiesen und bekam eine Anzeige, doch musste er die Schule nicht wechseln – ab da waren seine Eltern der Meinung, dass alle Anstrengung und jedes Bemühen bei ihm nichts mehr brachten, deshalb besorgten sie ihm ein eigenes Haus, damit sie ihn, den Schandfleck, der ihre Familienehre besudelte, nicht mehr ertragen mussten.
Seit diesem Tag hat er sich komplett verändert.
Er legte ein rebellisches Verhalten an den Tag. Fing an, sich die Haare zu färben und sich piercen zu lassen. Widersprach den Lehrern und war auch unhöflich gegenüber seinen Mitschülern.
Er war komplett wie ausgewechselt und lächeln sah man ihn ab da nur noch selten..zu selten. Er ist verschlossen geworden, lässt niemanden mehr in sein Innerstes blicken.
Den Preis, den er dafür erhalten hatte, war, dass sich keiner mehr mit ihm anlegte. Weil jeder Angst vor ihm hatte. Deshalb nennen sie ihn noch heute Monster und gehen ihm aus dem Weg und auch niemand spricht darüber, weil sie Angst haben, dass er genau dasselbe mit ihnen tun könnte oder sogar noch schlimmeres.
Es ging die ganzen zwei Jahre so, dass er nur mit einem mürrischen Blick umher rannte und Personen, die ihn zu lange ansahen, mit seinen Augen erdolchte, sodass sie sich in Windeseile von ihm abwandten.
Viele der neuen Schüler, die erst jetzt auf die Schule gekommen sind, wissen auch nichts von dem Vorfall. Sie kennen nur den Namen, haben aber keine Ahnung, wieso sie ihn so nennen und trauen sich nicht, die Stimme gegen Yoongi zu erheben, weil es ihnen von allen Seiten empfohlen wird.
Was die Folge davon nämlich ist, hast du bei Chanyeol gesehen.
Aber seitdem du da bist, ist er anders.
Ich weiß nicht, was es ist, was dich von anderen unterscheidet, dass er mit dir spricht und sogar was mit dir unternimmt, aber du tust ihm gut. Jimin, nicht einmal mich lässt er noch an sich heran, doch irgendwas sieht er in dir, was ihn wieder..glücklich sein lässt. Jedes Mal, wenn er in deiner Nähe ist, erkenne ich einen Teil des alten Yoongis in ihm wider. Es ist, als ob etwas von seinem damaligen Ich durch die Fassade, die über die Jahre entstanden ist, durchbricht. Und der Grund dafür bist du. Auch, wenn er dir momentan gegenüber so ablehnend zu sein scheint. Zwar kann ich nicht mehr zu Yoongi vordringen, aber seine Gefühlswelt und die bestimmten Verhaltensweisen, die er an den Tag legt, weiß ich noch heute zu deuten.
Und es ist kein Blödsinn, wenn ich dir sage, dass du ihm unheimlich wichtig bist.
Er ist bloß nicht die Art von Mensch, die es so offensichtlich zur Schau stellt.'
Bei diesen Worten schenkte Namjoon mir ein aufrichtiges, wirklich ehrliches Lächeln und im selben Moment schöpfte ich Hoffnung. Stimmte das?
'Aber..dass Taehyung ihm nicht in dieser schwierigen Zeit geholfen hatte, hat er ihm nie verziehen. Nachdem Yoongi sich wehrte und das Mobbing dadurch aufhörte, wechselte er kein einziges Wort mehr mit Taehyung. Er versuchte zwar noch, mit Yoongi zu reden, aber mehr als einen leeren Blick bekam er nicht von ihm zurück.
Und - hast du schon mal Yoongis Texte gelesen Jimin? Die auf den Blättern, die sich überall in seiner Wohnung befinden? Er verarbeitet damit, und auch darin, was passiert ist.
Eher durch Zufall bin ich mal auf die Texte aufmerksam geworden und war fassungslos, als ich sie mir durchlas.
Es hat mir so wehgetan zu lesen, wie er sich gefühlt und was es schlussendlich aus ihm gemacht hatte. Der Junge hatte so einen harten Kampf zu kämpfen, dass es ihn bald in die Knie gezwungen hatte. Einzig und allein die Tatsache, dass er so unglaublich zäh und durchhaltend ist, hat ihn das durchstehen lassen, und dafür hat sich Yoongi meinen größten Respekt verdient.'
Namjoon knetete seine Hände, wobei er seinen Mund geschlossen hielt. Das Schweigen wirkte nahezu unheimlich, so, wie es sich auf uns in meinem Zimmer drückte, und bald zu ersticken drohte.
'Jetzt weißt du es Jimin..die Wahrheit über das Monster.'
Das, was mir soeben zuteil geworden war, musste ich erstmal verdauen, denn ich hätte vieles erwartet, aber nicht das, und es war für mich auch nur schwer vorstellbar, dass Yoongi damals von anderen gemobbt wurde. Schließlich hatte ich ihn bald dauerhaft schlecht gelaunt und mit einem bösen Ausdruck in den Augen kennen gelernt. Aber das erklärte auch das Bild, was ich heute in dem Büro des Direktors gefunden hatte.
Dieses Verhalten seiner Klassenkameraden ihm gegenüber hatte ihn verändert, bald von Grund auf. Diese Erkenntnis war einer der Momente, in denen mein Herz in zwei geteilt wurde. Wie konnten Menschen nur so grausam sein? Was hatte Yoongi verbrochen, um so behandelt, so gedemütigt zu werden?
Vor mir sah ich einen fröhlichen Yoongi, dem die Lebensfreude ins Gesicht geschrieben stand, dessen Augen nur so vor Glück leuchteten – und die jetzt ihren Glanz verloren und einem desinteressierten Blick gewichen waren.
Sie hatten ihn, wie sie es selbst nannten, in ein Monster verwandelt, doch war dieser Titel für Yoongi nicht berechtigt.
'Gab es denn niemanden, der ihm sonst hätte helfen können?'
'Yoongi hatte viele Bekannte, aber wenig richtige Freunde, weil er nur den wenigsten vertraute. Darunter fielen eigentlich nur Taehyung und ich. Und wie bereits erwähnt, war ersterer keine wirklich große Hilfe.'
Kopfschüttelnd senkte ich meinen Blick.
'Das ist schrecklich..'
'Mehr als das. Deshalb bin ich umso glücklicher, zu sehen, dass Yoongi in deiner Gegenwart aufblüht.'
Zur Bestätigung nickte ich und versank gleich daraufhin wieder in Gedanken. Jetzt konnte ich Yoongis erste Reaktion auf mich auch nachvollziehen. Er hatte so viel Schlechtes durchgemacht, warum sollte er dann auch nett zu einem Fremden sein, der ihn anrempelte?
In meinem Kopf setzte sich alles in rasender Geschwindigkeit zu einem Puzzle zusammen. Yoongis Verhalten, das der anderen ihm gegenüber, diese Geheimnistuerei..
Als hätte man eine Glühbirne, die seit Jahren nicht im Dienst war, wieder angestellt, und nun strahlte sie in so einer kraftvollen Intensität, dass sich ihr Licht wortwörtlich in einen hinein brannte.
Doch eine Frage stellte sich mir mit einem Mal und wollte unbedingt beantwortet werden.
'Hast du irgendeine Ahnung, wer genau daran beteiligt gewesen war? Wer es losgetreten hatte?'
'Losgetreten hatten es wohl fünf Leute, die danach die Schule gewechselt hatten, da sie zu viel Angst vor Yoongi hatten. Nur einer von ihnen ist auf unserer Schule geblieben.'
'Wer ist er?'
'Sein Name ist Kim Jeunguk. Er wirkte damals schon nicht sonderlich freundlich, und das hat sich bis heute auch nicht verändert, einzig und allein die Tatsache, dass er Yoongi, nach dem Vorfall, wo es nur möglich ist, aus dem Weg geht.'
'Danke Namjoon..'
'Nicht dafür.'
Danach ließ er mich allein und ging, damit ich mir meine Gedanken über das nun gelüftete Geheimnis machen konnte, und ganz ehrlich – das brauchte ich auch. Ich saß noch sehr lange regungslos wie eine Puppe auf meinem Bett und verarbeitete das, was mir geschildert worden war. Am liebsten hätte ich meinen Schreibtisch oder irgendetwas anderes zerstört, denn es machte mich traurig und wütend zugleich und instinktiv spürte ich, dass die nächsten Tage alles andere als leicht für mich werden würden, denn ich wollte Antworten. Und ich würde alles tun, um sie zu bekommen.

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Die Nacht war ich nicht mit Schlafen beschäftigt gewesen. Zu viele Fragen warfen sich bald stündlich in meinem Kopf von Neuem auf und wollten beantwortet werden, gierten nach einer absoluten Lösung, sodass sie verstummen konnten, damit ich meine Ruhe fand.
Mit Hoseok redete ich nur kurz über Namjoons kurzen Besuch, den es verwundert hatte, dass dieser nicht zu ihm, sondern mir gekommen war, doch den Grund seines Besuchs ließ ich aus. Zuerst wollte ich mich allein mit Allem befasst haben, bevor ich ihn darin einweihte, denn er würde wahrscheinlich in einen hysterischen Anfall verfallen und sofort zu Yoongi rennen, um die Geschichte noch einmal von diesem zu hören, und das war etwas, auf das ich getrost verzichten konnte.
Im Unterricht war ich dann genauso abgelenkt, wie die ganze Nacht über gewesen.
Taehyung neben mir trieb wie üblich seine Späße, aber ich konnte nicht wirklich darüber lachen. Auf mich hatte er immer einen sehr netten Eindruck gemacht, und nun tat sich mir die Frage auf, ob ich ihn von Anfang an komplett falsch eingeschätzt hatte. War er möglicherweise doch anders, als ich bis dato angenommen hatte?
Gerade das beschäftigte mich die gesamte Stunde über. Hatte es einen Grund gegeben, weswegen Taehyung Yoongi damals nicht geholfen hatte? Hatte er Angst gehabt, selbst gemobbt zu werden? Es machte für mich keinen Sinn, und je mehr ich darüber dachte, desto skeptischer wurde ich Taehyung gegenüber, doch es fiel mir so schwer zu glauben, dass tatsächlich so eine Charaktereigenschaft zu ihm gehören sollte – dass er Freunde im Stich ließ.
Ich weiß nicht warum, aber für mich passte es nicht. Oder ich war schlichtweg viel zu naiv und Namjoons Worte hatten doch ihre Berechtigung, entsprachen der Wahrheit und ich war derjenige, der auf dem Holzweg war.
Mitten im Unterricht meldete sich dann eine kleine, leise Stimme in mir zu Wort – was wäre, wenn ich diesen Jeunguk persönlich darauf ansprechen würde? Er ist schlussendlich der Letzte, der von den damaligen Mobbern noch übrig war.
War die Idee so schlau? Ich bezweifelte es. Im Gegenteil, wahrscheinlich war sie sogar richtig dumm und ich würde mir letzten Endes selbst ein Bein stellen, aber meine Vernunft argumentierte schon lange nicht mehr, vor allem nicht gegen mein Herz, was seinen eigenen Willen hatte, und so beschloss ich:
Ich musste diesen Jeunguk unbedingt finden und ihn zur Rede stellen, denn ich wollte wissen, ob es wirklich nur Willkür damals gewesen war, oder ob er ein Motiv gehabt hatte, um Yoongi fertig zu machen.
Mir war klar, dass es sich hierbei um eine kurzfristig getroffene Entscheidung handelte, die ich noch einmal hätte überdenken sollen, aber in diesem Augenblick ging alles mit mir durch. Ich brauchte Antworten, und es gab nur eine Person, die sie mir aus erster Hand geben konnte.



Ich nutzte die Pause zwischen den Stunden, um meinen Gedanken in die Wirklichkeit umzusetzen.
Doch was mir meine Suche erschwerte, war die Tatsache, dass ich überhaupt keinen Plan hatte, wie dieser Jeunguk aussah. Mir war nur sein Name bekannt, aber ein Bild von ihm nahm keine Gestalt vor meinem geistigen Auge an. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass ich mich wohl oder übel rumfragen müsste, um ihn zu finden. Würde mir überhaupt jemand sagen können – oder wollen – wo er war oder wo ich ihn finden konnte?
Egal, alles war besser, als weiter mit endlosen Fragen leben zu müssen.
Es war für mich kein leichtes, auf Fremde zuzugehen, aber etwas anderes blieb mir sonst nicht übrig, also tat ich es.
'Weißt du, wo ich Kim Jeunguk finde?'
'Nein.'
'Kennst du Kim Jeunguk?'
'Nein.'
'Bist du mit Kim Jeunguk in einer Klasse?'
Jede Person, die ich fragte, verneinte, was mich irgendwann frustriert aufstöhnen ließ. Ich dachte schon darüber nach, die Suche aufzugeben und auf irgendeinem sozialen Netzwerk nach einem Bild von ihm zu suchen, als etwas an meine Ohren drang.
'Jeunguk-Oppa, kommst du?'
Der Name ließ mich sofort aufhorchen. Ich hatte mich durch gefühlt alle Gänge und Winkel der Schule gewühlt, nur um eine einzige Person aufzuspüren und gerade wollte ich mir den nächsten Schüler vornehmen, als ich auf diesen Satz aufmerksam wurde.
Das konnte nicht sein.
'Gleich, geh schon mal vor.'
Die Stimme war so schneidend, obwohl es sich nur um solch banale Worte handelte, dass ich fast fröstelte. Was meinte Namjoon? Dass sein erster Eindruck sowieso nicht der Beste war? Mit einer gewissen Erwartungshaltung sah ich mich nach dem Besitzer der Stimme um und meine Augen hingen nur einen Moment später an einem Jungen fest, der mit ein paar anderen zusammen stand und seinen Kopf in die Richtung eines Mädchens gedreht hatte, welches sich von der Gruppe entfernte.
Sein Gesicht besaß keinen Ausdruck, stattdessen wirkte es eher kalt und distanziert, sogar noch mehr, als es bei Yoongi der Fall war. Er war nicht sonderlich größer als ich, nur ein paar Zentimeter, und doch ließ sein Auftreten ihn größer, kräftiger erscheinen. Vielleicht hätte mich das einschüchtern und meine Tat im Keim ersticken sollen, doch rang ich jeglichen Versuch, der sich in mir aufbäumen wollte, nieder. Für sowas war jetzt keine Zeit.
Mit gezielten Schritten näherte ich mich der Gruppe, die mein Kommen noch nicht bemerkt hatten, und blieb, als ich meiner Meinung nach nah dran genug war, stehen.
Ich räusperte mich.
'Bist du Jeunguk?'
Die Augen des Angesprochenen fixierten mich und wanderten langsam über mich, musterten mich von oben bis unten, und auch, wenn das für mich unangenehm war, hielt ich dem stand. Sowas wie Angst war mir gerade ein Fremdwort.
'Wieso willst du das wissen?'
Seine Augen zeigten mir allzu deutlich, dass ich unerwünscht war und er absolut keine Lust auf ein Gespräch mit mir hatte. Das alles unterstrich noch der Unterton in seiner Stimme, doch ich dachte gar nicht daran, jetzt einen Rückzieher zu machen. Sollten seine Freunde doch dabei sein, mir war es gleich. Dass sie mich auch misstrauisch musterten, blendete ich aus.
'Sag mir, warum du damals Min Yoongi fertig gemacht hast.'
Ich meinte, in seinem Blick ein kleines Anzeichen von Furcht ausgemacht zu haben, doch seine nach oben wandernde Augenbraue ließ mich meine Beobachtung hinterfragen. Seine Freunde währenddessen sahen fragend von mir zu ihm, ihre Blicke waren nur so am hin- und herpendeln.
'Verpiss dich, bevor du es auf die Spitze treibst.'
Er machte keine Witze, das stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben und dass er sich mir zuwendete verstärkte diese Wirkung, doch noch immer nahm keine Angst von mir Besitz. Sollte er mich doch schlagen. Solange ich dann wenigstens wusste, was seine Beweggründe gewesen waren, würde ich alles ertragen.
'Nein.'
Mein Tonfall klang fester, als ich angenommen hatte, jedoch beruhigte es mich. Kein Anflug von Unsicherheit verzerrte ihn und ließ ihn komisch klingen, doch pumpte mein Herz schneller. Adrenalin war das Einzige, was sich in mir bemerkbar machte.
'Wieso hast du ihm das angetan? Was hat er dir getan, dass du ihn so behandelt hast? Weißt du eigentlich, was du angerichtet, was DU getan hast?!'
Ich redete mich in Rage und konnte mich selbst nur noch schwer zügeln. Wie selbstgefällig er so vor mir stand und dachte, dass die Welt ihm gehören würde. Die Wut bildete einen mir viel zu sehr vertrauten Kloß in meinem Hals. Wenn er nicht reden würde, könnte ich mich nicht mehr zurückhalten.
Ein ärgerlicher Ausdruck legte sich auf seine Gesichtszüge und ließ sie noch härter erscheinen, als sie ohnehin schon waren.
'Jetzt pass mal auf, du bist so kurz davor, dass ich dich krankenhausreif prügel. Zieh endlich Leine!'
'Nein! Ic-'
'Jimin.'
Ich stoppte in meinem Wahn, beziehungsweise wurde gestoppt.
Wie diese mir nur allzu gut bekannte Stimme meinen Namen aussprach, ließ mich erschaudern. Hatte ich sie mir gerade eingebildet?
Ungläubig bewegte ich mich in die Richtung, aus der mein Name gekommen war und schlagartig war meine Wut wie weggeblasen.
Nur wenige Meter weiter stand Yoongi, mit seiner dem Ausdruck fehlenden Maske und sah mich geradewegs an.
'Lass gut sein, es reicht.'
Es war kein harscher Tonfall, aber er genügte, damit ich meine Klappe hielt, jedoch konnte er nicht verhindern, dass mir Yoongis Schicksal dennoch sehr nah ging. Meine ganzen Empfindungen waren in dem Augenblick, in dem ich Jeunguk die ganzen Fragen an den Kopf geworfen hatte, hervorgebrochen und hatten mich übermannt. Kurz zuckte mein Blick zu Jeunguk, in dessen Augen ich jetzt tatsächlich Angst herauslesen konnte. Sie waren weit aufgerissen und sahen ebenfalls zu Yoongi, der diesen aber gar nicht nicht beachtete.
Bevor ich überhaupt nur noch irgendetwas sagen konnte, auch, wenn ich es nicht mal mehr gewollt hätte, trat Yoongi auch schon an mich heran und zog mich am Arm von den anderen fort.
Widerstandslos ließ ich mich mitziehen, spürte dabei noch die sich in meinen Nacken brennenden Blicke der Anderen, wie sie uns beobachteten, bis wir um eine Ecke gebogen und damit aus ihrem Sichtfeld getreten waren.
Mittlerweile hatten sich meine Gefühle aber so hochgeschaukelt, dass meine ganze Selbstbeherrschung nur noch aus Bruchstücken bestand und abblätterte wie alte, vergilbte Farbe an einer Holzwand.
Angestrengt blinzelte ich die Tränen fort und versuchte krampfhaft, Herr über meine Atmung zu werden, die nur noch stockend ging.
Kaum waren wir um die Ecke, ließ er meinen Arm sofort los und drehte sich zu mir herum. Vor Jeunguk hatte ich keine Angst gehabt, aber so vor Yoongi nun zu stehen, dabei schlotterten mir die Knie. War er sauer?
'Yoongi, ich..'
Ich unterbrach mich selbst, indem sich ein Schluchzen den Weg hinaus aus meiner Kehle bahnte. Verzweifelt vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen – ich wollte nicht vor Yoongi so klein und schwach wirken, und doch konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Es war einfach zu viel.
Ich kam mir so dumm vor, denn so hatte er mich nicht kennen gelernt. Er sollte in mir nicht jemanden sehen, der wegen jedem kleinen Bisschen anfing, in Tränen auszubrechen und gerade jetzt schämte ich mich.
'Jimin. Hör auf zu weinen.'
Überrascht blickte ich mit einer von Tränen verschleierten Sicht zu ihm hinauf. Störte es ihn? War er gar nicht sauer oder war es ihm peinlich, dass ich hier vor ihm weinte? Wollte er etwa nich-
Ohne vorherige Anzeichen schlang er seine Arme um mich und drückte mich an sich, zog mich somit in eine Umarmung und legte seinen Kopf auf meiner Schulter ab.
Zuerst war ich komplett perplex, da ich so ein Verhalten von Yoongi überhaupt nicht kannte, doch innerhalb von Sekunden wandelte es sich und ich schluchzte wieder, dieses Mal sogar noch lauter als vorher.
Mir war es immer unangenehm gewesen, vor anderen zu weinen. Es wurde mir beigebracht, dass Weinen bei Männern ein Zeichen von Schwäche sei. Als Mann hast du nicht zu weinen, sagte mein Vater Du schluckst die Tränen einfach runter und machst weiter.
Aber ich gehörte noch nie zu der Sorte Mann, die man als perfekt bezeichnen würde.
Irgendwann gibt es einen Punkt im Leben, in dem man seine Tränen nicht mehr zurückhalten kann, den Kampf gegen seine Gefühle, die sich manchmal über einen längeren Zeitraum angestaut haben, verliert.
Doch wie könnten Gefühle eine Schande sein? Waren sie nicht unter anderem das, was Menschen ausmachte?
Ich verstand noch nie, warum Weinen bei Männern verpönt war, aber durch meine Erziehung lernte ich, dass ich nicht zu weinen hatte, doch jetzt war es mir nur noch egal.
Ich sog Yoongis Duft ein, den ich so sehr vermisst hatte und irgendwie beruhigte er mich. Sanft strich Yoongi mir über den Rücken, was sofort eine Gänsehaut auf meinem Körper entstehen ließ. Dass mein Körper immer noch so auf ihn reagierte, obwohl er mich seit Wochen nicht mehr, auch nicht im Geringsten, berührt hatte, wunderte mich, doch ich genoss seine Hände, die über meinen Rücken wanderten und mir Trost spendeten, weswegen ich mich enger an ihn drückte.
Der Gedanke, dass er sauer auf mich sein könnte, war wie weggeblasen und stattdessen schmiegte ich mich an die Wärmequelle, die den Namen Min Yoongi trug.
Die Schmerzen der letzten Wochen gab es auf einmal nicht mehr. Mich füllte nur noch Freude aus, dass ich Yoongi wieder berühren durfte, dass er wieder mit mir sprach.
So standen wir da, eng umschlungen, keiner von uns beiden ein Wort sagend, bis ich mich irgendwann beruhigt hatte. Noch brannten die Spuren der Tränen heiß auf meinen Wangen, ließen mein sonst so normales Gesicht bestimmt richtig verquollen aussehen, doch war es mir nicht wichtig. Wichtig war mir, dass Yoongi hier, direkt vor mir war, und mich weiterhin im Arm hielt.
Erst, als er sich sicher war, dass ich mich auch wirklich beruhigt hatte, brachte er soviel Abstand zwischen uns, dass er mir in mein Gesicht sehen konnte. Sein eigenes war so nah an meinem dran, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte.
'Mach das nicht noch einmal, Jishit.'
Bei meinem Spitznamen musste ich, nachdem ich ihn kurz perplex ansah, kurz lachen, wobei sich auch auf Yoongis Gesicht ein Lächeln stahl und ich wusste – er war nicht sauer. Er war. Nicht. Sauer.
Das war für mich das reinste Glück. Bevor ich aber noch auf dumme Gedanken aufgrund von Yoongis Nähe zu mir kam, löste ich mich von ihm und trat ein paar Schritte zurück, doch brachte mich dieser Mensch noch immer dazu, wie ein Idiot zu grinsen, und auch er hörte nicht auf.
Doch das war noch nicht das Ende, denn es sollte noch etwas Großes, sehr Großes, folgen.

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