Kapitel 3

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Ich kam wieder zu mir und wurde angestarrt. Von Ärzten. Na toll. War ich jetzt auch noch im Krankenhaus?

In einer Ecke entdeckte ich meinen Dad stehen. „Sie ist jetzt wach, kann ich sie mit nehmen?“, fragte er und ich erschrak, als seine leeren Augen, auf mich gerichtet waren. Keinerlei Gefühl spiegelte sich in ihnen. Genauso wenig in seiner Stimme. Der eine Arzt, der gerade meinen Puls maß, nickte schwach und wie auf Kommando zogen alle Weißkittel aus dem Raum ab.

Ich stand auf. Wow. Ich bekam nicht mal erneut Kreislaufprobleme.

Bis zu dem Moment, als wir zu Hause ankamen, war ich wie von einem Schutzwall vor Gefühlen geschützt gewesen. Dann aber wurde mir wieder bewusst, was sich gestern ereignet hatte, was meine Augen gesehen, meine Ohren gehört hatten.

Wie lange war ich Bewusstlos gewesen? Auf jeden Fall war es wieder hell.

Meine erste Aktion, als ich im ersten Stock ankam: Ich sah in den Spiegel.

Die grünen Augen des zweiten Ichs starrten mich genauso leblos an, wie die meines Dads mich betrachtet hatten. Die Haut meines Zwillings war unendlich blass, dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Die bauchnabellangen honigblonden Haare hingen glatt, aber ungepflegt über seine Schultern. Ich trat einen Schritt näher an den Spiegel, dann noch einen und noch einen, bis ich direkt vor dem Kristallglas stand. Mein Erscheinungsbild…es machte mich beinahe fertig mich so zu sehen.

Vor allem: Alex hatte exakt dieselben Augen und exakt diese Haarfarbe gehabt.

Alex…wo war er wohl jetzt? Gab es etwas wie einen Himmel? Ich war nicht gläubig. Eigentlich gar nicht. Und so gerne ich jetzt auch an einen Gott geglaubt hätte, ich konnte es nicht.

Ich musste mich von dem Spiegel weg drehen, ich hielt es nicht mehr aus, meine Augen und mein gesamtes Ich zu sehen. Nicht, wenn alles an mir mich so an Alex erinnerte.

Oft waren wir gefragt worden, ob wir Zwillinge waren. Wir sahen wirklich gleich aus…aber er war älter gewesen.

Oh Gott…es tat so weh in der Vergangenheit über ihn zu denken. Und irgendwie konnte ich noch nicht begreifen, dass er nicht…nein, niemals wieder kommen würde. Nun würde er uns niemals wieder besuche. Kein einziges weiteres Mal in meinem Leben würde ich meinen Bruder wieder sehen können.

Vielleicht konnten einige das nicht verstehen, aber Alex und ich waren mehr als nur diese Geschwister gewesen. Wir hatten uns immer gegenseitig helfen können und hatten uns beigestanden. Wir waren immer für einander da gewesen.

„Warum hast du das getan?!“, flüsterte ich. „Warum tust du mir das an, Alex?“

Ich wusste fast zu 100%, dass er das nicht hören konnte, aber ich hatte einfach noch das Gefühl, als wäre er lebendig.

Meine Beine trugen mich in Richtung Wohnzimmer, wo meine Eltern gerade miteinander redeten. Ich blieb um die Ecke im Flur stehen, um sie belauschen zu können. Lauschen…das war so ein böses Wort…ich wollte einfach hören, worüber sie redeten.

Wann sie wohl gestern – wenn es wirklich gestern gewesen war? – am Bahnhof angekommen waren?

Ich hörte sie über mich reden. Machten sie sich Sorgen? Dann vielen die Worte: Bahnhof, Alex, Beerdigung, wenige Tage. Vor allem das dritte Wort verpasste mir einen heftigen Schlag, der sich anfühlte, wie ein Tritt in die Magengrube.

Ich rannte die Treppen wieder nach oben, mein Blick streifte dabei den Spiegel. Nein! Wut machte sich in mir breit und ich schnappte mir etwas Geld, bevor ich erneut nach unten ging, in meine Schuhe schlüpfte, meine Jacke in die Hand nahm und das Haus verließ.

Rennend kam ich zum Bahnhof. Nichts. Rein gar nichts zeugte von dem Geschehenen. War das ihr ernst? Alles nahm seinen Lauf, obwohl mein Bruder tot war? Wegen diesem einen beschissenen Zug?

Ich merkte, wie ich wieder kurz davor stand, zusammenzubrechen, also drehte ich mich weg und lief.

Ich hatte keine wirkliche Ahnung, wohin ich ging, oder als ich in einen Bus stieg, warum, oder gar wohin ich fuhr. Ich ließ mich von meinem Instinkt leiten.

Als ich ausgestiegen war, wusste ich, wohin ich gefahren war. In die Innenstadt. Rosenheim.

In einem Schaufenster sah ich mein Spiegelbild, erkannte wieder einmal Alex in mir, was mich an den Rand der Verzweiflung brachte, ehe ich wirklich begriff, was ich tat, war bereits ein Teil des Glasfensters zersplittert. Was? Was war gerade passiert? Wie hatte ich das angestellt?

Eine vor Wut rot angelaufene Frau kam auf mich zu gerannt, ich drehte mich um und rannte, rannte so schnell ich nur konnte und hoffte, die Ladenbesitzerin abhängen zu können.

Wie sich wenig später heraus stellte, hatte ich es geschafft, denn als ich mich umdrehte, war sie verschwunden.

Ich befand mich in der Fußgängerpassage. Okay…ich musste etwas unternehmen, konnte nicht Gefahr laufen, durchzudrehen, wenn ich in den Spiegel sah. Nach der Aktion von gerade konnte ich für nichts mehr garantieren.

Mein Blick fiel auf meine schmerzende Hand. Glassplitter steckten in meiner Haut und Blut rann an ihr hinab, tropfte auf den Boden. Ich starrte den kleinen roten Fleck im Schnee an und begann erneut zu rennen.

Folge deinem Herzen bis in den TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt