Kapitel 4

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Wie in Trance durchlief ich die nächsten Stunden. Wirklich zurechnungsfähig war ich erst wieder, als meine Mutter einen entsetzten Schrei ausstieß, als ich ins Wohnzimmer kam.

„Reg dich nicht auf Mum, das musste sein!“, entgegnete ich, bevor sie etwas sagen konnte.

„Bist du völlig übergeschnappt Marisa?“, schrie meine Mutter mich nun an, was mich kaum erreichte, es war mir einfach komplett egal was sie dachte.

Da meine Eltern jetzt gesehen hatten, was sie in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten erwartete, wenn sie ihre Tochter sahen, stieg ich die Treppe wieder nach oben und knipste das Licht in meinem Zimmer an, schloss meine Tür und trat an den bodentiefen Spiegel. Perfekt.

Zwar blickten mir noch immer zwei grüne Augen entgegen, aber das lange Blond meiner Haare war einem schulterlangen, stark gestuften Schwarz gewichen. Die Frisur sah nicht gerade professionell aus…kein Wunder, da ich sie mir selbst geschnitten hatte. Der Scheitel, der sonst immer leicht nach rechts verschoben war, war um ein vielfaches weiter zur Seite gerückt.

Bis auf die Augen, die durch die dunklen Haare und vor allem durch ziemlich viel Schminke nun viel leuchtender erschienen, erinnerte rein gar nichts mehr an die Marisa von heute Morgen, an die Marisa von den ganzen letzten sechszehn Jahren.

Vielleicht lag es auch an den Klamotten, die ich irgendwo in meinem Kleiderschrank gefunden und zusammengestellt hatte.

Okay…eventuell stimmte tatsächlich etwas nicht mehr mit mir, bis gestern hatte ich genau zwei Ohrlöcher gehabt und war der Überzeugung gewesen, dass sich das nicht ändern würde. Jetzt waren am rechten Ohr drei und am linken eines und ein Helix. Wie viel Geld das gekostet hatte wusste ich nicht. Ich wusste nur eins: Das ganze Geld, das ich vorhin zu fassen bekommen hatte, war nun weg und meine Ohren taten weh…sehr weh.

Ich drehte mich zum Fenster. Es war Neumond und man sah nur einige der Milliarden Sterne am dunklen Blau des Himmels schimmern.

Ich mochte die Nacht. Das war schon immer so gewesen. Ich liebte das Geheimnis, dass diese Dunkelheit mit sich brachte, das Mysteriöse und das unantastbare.

Ein leises vibrieren ließ mich zusammenzucken. Beinahe ängstlich holte ich mein Handy aus der Hosentasche und öffnete Whatsapp.

Panik erfasste mich. Panik, dass sich alles von gestern erneut ereignen könnte, Panik, dass diese Nachricht von Alex war.

Das war sie natürlich nicht, sondern von meiner besten Freundin. Ich las sie nicht, ließ das Telefon einfach auf das Packet fallen. Scheiß drauf, dass es nun kaputt sein könnte.

Meine Hand ertastete Tränen auf meinen Wangen und Wut breitete sich in mir aus. Wut über Alex, Wut über meine Eltern, Wut über die ganze Welt, aber vor allem über mich. Darüber, dass ich weinte und nicht stark genug war, die Tränen zurück zu halten, darüber, dass ich so schwach war und nicht über seinen Tod hinweg sehen konnte, einfach weiter machen konnte, wie jeden bisherigen Tag. Wut darüber, dass ich mir selbst nicht mehr in die Augen hatte sehen können, bis ich zu einer äußerlich anderen Person geworden war. In nur wenigen Stunden war ich nicht mehr ich selbst.

Aber ich war nicht nur äußerlich anders geworden, irgendwie fühlte ich mich komplette wie ausgewechselt. Vor einem Tag noch glücklich, gehorsam und irgendwie das kleine liebe Mädchen und heute kalt, ein Teil meines Herzens war mit Alex gestorben. Wir hatten immer zusammen gehört. Man konnte uns doch nicht mir nichts, dir nichts trennen. Doch…man konnte…sonst wäre er noch hier…oder wenigstens in München. Am Leben. Auf der Erde. Nicht tot…nicht irgendein Etwas in Nirgendwo.

Folge deinem Herzen bis in den TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt