Kapitel 8

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Ich antwortete nicht. Das hatte ich schon seit dem Todestag nicht mehr getan. Niemandem. Ich brachte es nicht fertig irgendetwas in die Tastatur zu hämmern…

Aber mir kam eine Idee. Ich öffnete den Chat mir Alex, der nur als „Bruderherz“ eingespeichert war und fing augenblicklich an zu zittern, als ich das Memo und die drei Worte sah.

Ich tippte auf das untere Fenster, um etwas schreiben zu können.

„Hey Alex…wie kannst du das tun? Wie kannst du mich einfach alleine lassen? Ich konnte nicht mal mehr in den Spiegel sehen, ohne an dich denken zu müssen…vllt. sagst du das ist doch nicht schlecht, wenn ich in ihrem Herzen bleibe, aber ich konnte das nicht! Du weißt nicht, was du mir damit angetan hast, als du mir das Memo geschickt hast, oder heute bei der Beerdigung…das erste Mal habe ich nichts gegen meine Gefühle tun können…sie haben mich einfach überfallen…ich komme mir im Nachhinein so dämlich vor…aber es tut weh zu wissen, dass man dich nicht zurück holen kann…nicht mal verabschieden konnte ich mich! Und jetzt sehen wir uns nie wieder…das schmerzt so sehr…Alex, es schmerzt so verdammt doll! Innerlich hoffe ich immer noch, dass ich aufwache, das alles nur ein grausamer Albtraum war…aber mein Gehirn hat längst begriffen, dass es das nicht ist…! Ich vermisse dich Brüderchen…ich halte das kaum aus in Momenten, wie diesen…wo mich einfach alles an dich erinnert…aber am schlimmsten war es vorhin am Grab…ich war nicht mehr fähig irgendetwas zu tun…! Ich liebe dich und werde dich nie vergessen, Alex!“

Ich schickte den Text ab und schaltete das W-LAN ab, genauso wie mein Handy. So, als wollte ich nicht Gefahr laufen, dass er antwortete, was natürlich nicht möglich war…

Ich trat vor den Spiegel. Shit…meine Wimperntusche war mit den Tränen an meinen Wangen hinunter gelaufen, dementsprechend waren sie nun ziemlich schwarz…außerdem waren meine Augen angeschwollen und rot, kurz…ich sah aus wie ein Zombie.

Ich schloss meine Augen und lehnte meinen Kopf an das kühle Spiegelglas.

Wie sollte ich die nächsten Tage, Wochen, Monate, Jahre überstehen? Aber noch schlimmer…wie die nächsten Sekunden, Minuten, Stunden? Wie sollte das funktionieren?

Ein Teil meiner Familie fehlte…nicht nur ein Teil…der Teil, der immer zu mir gestanden hatte, der Teil, der immer für mich da gewesen war und mich immer unterstützt, mir in jeder Situation geholfen und mir beigestanden hatte. Mein Bruder, mein Freund…

Ich entfernte mich von dem Spiegel, indem ich meine Augen öffnete, tief Luft holte, einen kleinen Schritt nach hinten tat und meinem Spiegelbild den Mittelfinger entgegen streckte, was bewirkte, dass dieses mir nach tat.

Irgendwie erfüllte mich der Gedanke daran, dass dieses dämliche Spiegelbild meiner selbst, immer exakt das tat, was ich selbst tat, mit einer leichten Genugtuung, die genauso schnell verblasste, wie sie gekommen war.

Ich entschied mich, hinunter zu meinen Eltern zu gehen…ihr Sohn war schließlich gestorben…

Das Bild, welches sich mir bot, hätte ich am liebsten aus meinem Gedächtnis verbannt…keine Eltern saßen dort…eher eine Art Zombies…ja, so konnte man das guten Gewissens bezeichnen.

Rot unterlaufene, dick angeschwollene Augen, dazu kamen bei meiner Mutter schwarze Wimperntusche und lange Haare die ihr im Gesicht klebten. Beide sahen so aus, als wären sie seelisch genauso tot wie Alex es war.

„Marisa?“, fragte meine Mutter, ohne den Kopf zu heben. Es war keine Frage, die etwas andeuten sollte, es war einfach so eine Frage, ob ich es denn war.

„Nein, ich bin der liebe Weihnachtsmann, der durch den Kamin gekommen ist. Schön Sie kennen zu lernen!“, meinte ich ironisch und konnte mir ein gehässiges, erstauntes Auflachen nicht unterdrücken.

„Das ist nicht witzig!“, schaltete sich mein Vater ein. Was wollte er denn jetzt? Sein Blick lag genau in meinem und seine Augen blitzen gefährlich. Ich hätte es mir definitiv lieber verkneifen sollen, aber ein gleichgültiges „Doch“ verließ meine Kehle und ich konnte so schnell gar nicht schauen, wie mein Dad sich erhoben, neben mir gestanden hatte, und mir eine kräftige Ohrfeige verpasst hatte, die mir beinahe die Beine unter dem Körper wegehauen hatte.

Geschockt starrte ich ihn an. Seine Augen funkelten noch immer streitsüchtig und ich roch eine starke Alkoholfahne…mein Vater war völlig besoffen?! Das war er noch nie gewesen! Eher immer der strikte Antialkoholiker.

Ich drehte mich um und raste die Stufen nach oben, schloss meine Zimmertür ab und rutschte an dem glatten Holz nach unten. War das sein Ernst? Hatte er mich gerade wirklich geschlagen?

Tränen rannen meine Wangen hinunter. Tränen des Erstaunens, der Verzweiflung, des Schmerzes, aber vor allem der Wut. Das konnte er doch nicht bringen! Nein…das konnte er nicht! Wenn ich mich recht entsinne, war es doch sogar gegen das Gesetz, seine Kinder zu schlagen, oder?

Ich könnte ihn anzeigen gehen, ihn verklagen! Aber ich würde das niemals tun…er war mein Vater und ich nur das brave Töchterchen.

Andererseits…ich war es gewesen…Alex tot hatte mich verändert. Ich war definitiv nicht mehr das gleiche Mauerblümchen.

Wieso also sollte ich noch tun, was man mir vorschrieb? Irgendwann würde ich sowieso sterben, was machte es da für einen Unterschied, ob ich mein Leben gelebt hatte? Lieber tat ich das, was ich wirklich wollte, als irgendeine Marionette zu sein.

Folge deinem Herzen bis in den TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt