Kapitel 17

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Ich kauerte auf meinem Bett, mehr liegend als sitzend. Die Position war ziemlich ungemütlich, aber ich dachte nicht daran, mich anders hin zu legen, bzw. eben setzen.

 Irgendjemand hatte während meiner Abwesenheit das Fenster geöffnet, durch das nun eisige Luft hinein wehte. Es würde diesen Winter bestimmt noch einmal heftig schneien. Neuschnee geben. Ob ich mich jemals wieder über diese weißen Glitzerkristalle freuen würde können? Ich hatte den Schnee immer gemocht. Seitdem ich ein kleines Kind gewesen war. Er hatte etwas Magisches. Genau wie die Nacht.

Meine Gedanken schweiften zu den Posts auf Facebook. War ich wirklich verrückt? Nur weil ich erfahren dürfte, wie toll die Welt des Todes war und nun dorthin zurück wollte? Niemand von ihnen hatte ihren Bruder verloren, niemand würde je den Schmerz erfahren, die anfängliche Leere. Keiner würde es auch nur in 1000 Jahren nachvollziehen können, aber bedeutete das gleich, dass ich verrückt war?

Definition verrückt…was war das? Lange dachte ich über diese Verhaltensweise nach, ohne einen Einfall zu bekommen, wie man es beschreiben könnte verrückt zu sein.

Vielleicht war es Dinge zu tun, die anderen missfielen, die sie niemals selbst tun würden, die sie nicht verstehen konnten.

Vielleicht war es geistig nicht zurechnungsfähig zu sein, eine Gefahr für sich selbst und andere darzustellen.

Vielleicht war es die Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis in der Gegenwart oder Vergangenheit.

Nein, ich war nicht verrückt, nur entschlossen. Entschlossen zu sterben, was andere davon hielten, war mir egal. Sie mussten es schließlich nicht verstehen können.

Ein erneuter kalter Luftzug brachte mich dazu, aufzustehen und zum Fenster zu gehen. Ich öffnete es von Kipp zu gänzlich offen und sah durch die Gitterstäbe hinaus. „Wie im Gefängnis, oder?“

Bei der Stimme zuckte ich zusammen, ehe ich mich umdrehte. Eine junge Frau stand mir gegenüber. Höchstens 20. Sie hatte langes Gold-blondes Haar und war relativ groß. Größer als ich. Was bei meiner Größe von 1,60m (falls ich jemals etwas anderes geschrieben habe -> sorry:D) nicht sonderlich schwer war.

„Wer sind Sie?“, fragte ich misstrauisch, da ich entweder eine andere Psychologin, oder eine Pflegerin hinter ihr vermutete hätte.

„Oh bitte sag du, dieses Sie nervt nur! Ich bin Lia“, meinte sie freundlich und trat neben mich ans Fenster.

„Marisa“, stellte ich mich knapp vor und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen.

„Sieh mich nicht so an, ich bin auch eine Bewohnerin. Schon ein halbes Jahr hier…habe versucht von ner Brücke zu springen…hat nicht so gut geklappt wie ursprünglich erhofft…vielleicht war es auch besser so?! Wieso bist du hier? Du bist neu, nicht?“, plauderte sie offen heraus. Irgendwie gefiel mir ihre Art jetzt schon.

„Tabletten mit Alkohol…aber ich würde es jeder Zeit wieder machen wollen. Eigentlich habe ich es nur getan, weil ich meinen Bruder wieder sehen wollte, aber dann habe ich diese Welt gesehen…“, ich wusste nicht wieso ich ihr das so schnell anvertraute, aber ich hatte das Gefühl, ihr vertrauen zu können.

Sie nickte wissentlich „Das sagen viele…die kommen hier ewig nicht mehr raus. Ich auch…irgendwann denkt man, dass man sich das nur eingebildet hat…aber die Neuzugänge erinnern mich daran, dass es wahr ist!“

Lia lächelte mich an, ich erwiderte es vorsichtig. Wieso konnte ich ihr das alles erzählen? Ich kannte sie doch gar nicht? Vielleicht war sie ja auch ein Spitzel des Hauses?

Aber so schätzte ich sie nicht ein. Gar nicht. Sie sah zwar aus wie ein normales Mädchen, aber ihre Augen verrieten, was sie durchgemacht hatte.

Sie spiegelten Schmerz, Verlust, Angst und auch Hoffnung wieder. Vielleicht hatte ich in Lia eine Verbündete gefunden.

„Würdest du es wieder tun?“, riss mich ihre Stimme aus meinen Gedanken. Sie war klar und freundlich. Irgendwie sofort einprägsam und sympathisch.

„Jeder Zeit, wenn ich die Möglichkeit bekommen würde. Und du?“

Sie richtete ihren Blick nach draußen, wo die Sonne begann den Himmel in ein himmlisches Rot zu färben. „Ich weiß es nicht“, meinte sie langsam und ich entdeckte von der Seite den glasigen Schimmer ihrer Augen, der ihre Verletzlichkeit in dem Moment wieder spiegelte. „Man vergisst so einiges in der Zeit hier…damit auch die Schönheit des Ortes nach dem Leben! Man vergisst, was man einst so sehnlichst wollte…sie nehmen es einem weg! Ich hatte Hoffnungen, schnell wieder heraus zu kommen und erneut…da hatte ich verloren…alles verloren…“, Tränen schlichen sich aus ihren Augen.

Ich legte zögerlich meine Hand auf ihre Schulter. In diesem Moment hatte ich beschlossen, mich nicht zu verstellen. Ich würde nicht mit Absicht kooperieren, wenn Frau Ibis mich etwas fragte. Sollten sie mich eben für immer hier fest halten, aber ich wollte auf keinen Fall tun was sie mir sagten. Das würde nur damit enden, dass ich vergaß was ich vor hatte. Lieber den Gedanken behalten, als ihn zu verlieren und dafür zu leben.

Und mir wurde auch der Satz von gestern bewusst. Ich hatte Frau Ibis gesagt, dass ich mich erneut versuchen würde umzubringen, also würde sie ohnehin misstrauisch werden, wenn ich zu kooperativ war.

Lias Blick war noch immer nach draußen gerichtet und ich hatte auch begonnen den Bahnen der Sonne zu folgen, bis sie schließlich vom Mond abgelöst wurden.

Ich würde auch hier drinnen einen Weg finden, zu sterben, früher oder später.

Nie war ich eine Kämpfernatur gewesen. Nie. Und ich hätte nie gedacht, es einmal zu werden, dass aus dieser grauen Maus mal eine Katze werden würde.

Aber ich würde kämpfen müssen, um mein Ziel zu erreichen. Und ich würde es erreichen.

ICH WÜRDE ES SCHAFFEN KÖNNEN!

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