Kapitel 6

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Nun stand ich wirklich allein in diesem riesigen Kirchenschiff. Irgendwie verloren und fehl am Platz.

Ich glaubte doch nicht einmal, warum also war ich hier?

Meine Füße setzten sich in Bewegung, trugen mich hinaus. Hinaus in die Kälte.

Hinaus, um mich mit all dem in der Zwischenzeit geschehenen zu konfrontieren.

Man sah weder den Sarg noch irgendetwas. Einfach nur ein Erdloch. Und viele Menschen um es gescharrt.

Mit etwas Abstand blieb ich stehen und beobachtete, wie sich die Reihen um das noch offene Grab lichteten.

Bald war ich beinahe die einzige und hatte noch immer keine Gefühlsregung.

Wieder einige Zeit später stand nur noch Shirin am Grab und schmiss eine schöne rote Rose in die Grube. Sie fiel aus ihrer Hand und passierte mein Sichtfeld, verschwand in dem Loch.

Dem Loch, in dem ein hölzerner Sarg stand. Ein Sarg, in dem die Überreste eines Körpers lagen. Ein Körper, der mir sechszehn Jahre lang nur zu vertraut gewesen war.

Ich vernahm mühelos das Schluchzen, das Shirins Mund verließ, hörte, wie sie irgendwelche Worte wisperte, doch die Entfernung war zu groß, um irgendetwas genaueres verstehen zu können. Vielleicht war das auch gar nicht so schlecht…sie musste genau wie alle anderen Abschied nehmen. Abschied von ihrem Freund. Von ihrem geliebten.

Was wohl schlimmer war? Seinen Freund, oder seinen Bruder zu verlieren? Wahrscheinlich war beides schlimm. Auf seine Art und Weise eine Tragödie.

Seit dem Todestag hatte ich meinen Eltern ansehen, wie sie von Minute zu Minute mehr zerbrochen sind und ich? Ich war geschockt, dann entschlossen mich zu verändern und nun einfach leer gewesen.

Leer. Ich glaube das trifft es einfach perfekt. Leer. Leer wie eine Wasserflasche, leer wie ein Klassenzimmer am Sonntag. Einfach komplett leer.

Shirin drehte sich um und ihre verquollenen Augen sandten einen grausigen Schmerz aus. Sie litt. Vielleicht war meine Methode alles, wirklich alles zu verdrängen doch  gar nicht so schlecht?

„Du durchstehst das, Shirin!“, meinte ich, als sie an mir vorbei ging. Aber Anscheinend waren das genau die falschen Worte gewesen, denn sie fing augenblicklich wieder heftiger zu weinen an. Verdammt. Nicht mal die richtigen Worte um eine andere Person zu trösten fand ich…

Alleine stand ich nun etwa zehn Meter von dem Grab entfernt. Ein paar Rosen lagen neben dem Abgrund. Ich tat einige Schritte auf es zu und blieb stehen, atmete tief durch. Der Abschied stand an. Der endgültige Abschied.

Wieder einige Schritte, ehe ich abermals anhielt, nur um erneut einige Schritte zu tun.

Früher oder später erreichte ich aber auch so das Grab und riskierte einen Blick über die Kante der Erde. Das Bild, das sich mir bot, verschlug mir die Sprache.

Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Das hätte ich einfach nicht erwartet. Niemals hätte ich damit gerechnet. Und weil ich mich einfach nicht darauf vorbereiten konnte, überwältigten mich nun doch meine Gefühle. Rosen über Rosen, in rot und weiß und auch in rosa, in allen Variationen zwischen diesen Farben, lagen gehäuft auf dem weiß-goldenen Deckel des Sargs.

Jeder der Gäste der Beerdigung hatte mindestens eine Rose hinein werfen müssen, damit so eine Anzahl zu Stande kam. Wow. Ich starrte hinunter, die Hand noch immer vor meinem Mund. Starrte wie vorhin den Sarg an, aber jetzt nicht emotionslos, sondern prasselten zu viele Emotionen auf einmal auf mich ein: Zum einen war ich wirklich glücklich und positiv überrascht, dass so ein wunderschönes Bild zustande gekommen war, welches Alex sicher auch gefallen hätte, zum anderen wurde mir – wie ich es bereits seit dem Abend seines Todes erahnt hatte – jetzt schlagartig bewusst, was das hier bedeutete.

Immerhin war es mehr oder weniger normal gewesen, ihn selten zu sehen, bzw. längere Zeit auch gar nicht, aber jetzt wurde mir gezeigt, dass er NIE wieder zu Besuch kommen würde. NIE. N. I.  E.

Ich hatte in den vergangenen Tagen nicht so richtig zu 100% verstanden, was geschehen war und mein Körper hatte eine Art Schutzwall errichtet, der nun zusammengebrochen war.

Meine Beine gaben nach und ich fiel auf die Knie, wo ich erst einmal sitzen blieb. Etwas anderes wäre mir auch gar nicht möglich gewesen, denn mein Körper zitterte extrem stark und ich versuchte mit allen Mitteln meinen Schutzwall wieder aufzurichten. Lieber keine Emotionen, als zu viele. Jedoch scheiterte ich kläglich. Was sonst?!

Meine Hände gruben sich in die gefrorene Erde, mir war egal, ob meine Finger im Schnee und dank den niedrigen Temperaturen abstarben. Mir war alles egal.

Krampfhaft versuchte ich gegen die Tränen anzukämpfen und wieder die Überhand über mich zu erlangen, doch mein Herz schrie mich an, endlich zuzulassen, dass ich trauerte, ansonsten würde ich über kurz oder lang an dem unterdrückten Schmerz zerbrechen.

Leider konterte mein Gehirn, dass ich genauso an dem Schmerz zerbrechen würde, wenn ich ihn zuließe, schließlich müsste ich erst einmal irgendwie damit klar kommen. Mit den neuen Gegebenheiten, den neuen Umständen und den ganzen Gefühlen, die auf einmal auf mich einprasselten.

Ich wusste nicht ob ich auf mein Herz, oder mein Gehirn hören sollte, aber ich wusste, dass ich keine Kraft mehr hatte, um gegen die Welle an Gefühlen an zu kämpfen und so ließ ich mich fallen. Ließ die Tränen laufen. Ließ die Schluchzer meinen Körper erschüttern und ließ zu, dass ein gequälter, markerschütternder Schrei meine Kehle verließ.

Am liebsten hätte ich mich einfach zu Alex in das Grab dazugelegt. Niemand würde diesen Schmerz auf Dauer überstehen, wie also sollte ich es schaffen?

Folge deinem Herzen bis in den TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt