Kapitel 5

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Der Tag der Beerdigung. Vier Tage nach dem 'Unfall', wie ich es gerne nannte, mir war klar, dass es keiner gewesen war, aber das Wort beruhigte mich irgendwie etwas.

Um zehn Uhr sollte die Kirche beginnen, um acht begann ich mich fertig zu machen. Ich stieg unter die Dusche und ließ warmes Wasser meinen Körper hinab rinnen.

Langsam begann mein Herz zu registrieren, was mein Gehirn schon lange wusste: Er war fort.

Mit jedem Tag wurde die leere in mir größer, aber ich hatte das Gefühl, dass es erst ab heute wirklich schlimm werden würde.

Müde drehte ich das Wasser ab, stieg aus der Dusche, schlüpfte in meinen Bademantel und begann meine Haare zu föhnen.

Noch eineinhalb Stunden bis zum Gottesdienst. Ich fragte mich, was überhaupt von Alex beerdigt werden konnte. Ein Schneefeld, das von seinem Blut rot gefärbt wurde?

Meine Finger schlossen geschickt den filigranen goldenen Reißverschluss des Kleides an meinem Rücken. Ich hatte das Kleid vor knapp einem Jahr gekauft, wieso wusste ich nicht mehr. Aber ich hatte es kein einziges Mal getragen…es hatte keine Gelegenheit gegeben.

Ich legte besonders viel Schminke auf, egal ob sie durch Tränen verwischen könnte. Ohnehin hatte ich vor, mir zu verbieten, zu weinen. Was brachte es eine Ewigkeit zu trauern, um jemanden, der den Tod wollte? Ihn selbst herauf beschworen hatte?

Mein Innerstes wusste genau, dass ich diese Worte nicht ernst meinte. Ich litt genug unter seinem Verlust. Wir waren nicht nur Geschwister gewesen. Wir waren Freunde. Verbündete im Kampf gegen das erwachsen werden.

Mein Gesamtbild war irgendwie…ja es sah traurig aus. Ein seltsamer matter schimmer lag in meinen Augen, meine Haut war blass und dunkelblaue Ringe zierten die Haut unter meinen Augen.

Der Kayal und der Eyeliner umrahmten die Wimpern und ließen mich noch blasser aussehen.

Meine Haare trug ich offen, hatte aber eine mittelgroße schwarze Schleife in eine vordere Partie gebunden.

Das Kleid…wie gesagt…ich hatte es bisher nie getragen. Aber ich mochte es. Eigentlich hatte es gar nichts Besonderes an sich: es war nicht ganz knielang, insgesamt sehr eng anliegend, am Rücken diesen feinen goldenen Reißverschluss und ansonsten eher unspektakulär.

Ich sah gewiss nicht hübsch aus, das machten mir allein meine Haare und die starke Schminke zu Nichte, aber hübsch wollte ich ja auch nicht aussehen. Erst recht nicht niedlich, oder süß. Ich wollte als Person anerkannt und erkannt werden. Ich wollte, dass die Leute die mich kannten und sahen bemerkten, welche Veränderung in einem Menschen stattfinden kann.

Die Zeit, bis wir in der Kirche saßen, zog beinahe unbemerkt an mir vorbei, so als wäre sie gar nicht geschehen.

Nun saß ich mit Absicht alleine in der ersten Reihe der Kirchenbänke und starrte den weißen Sarg an, der dort keine fünf Meter vor mir stand. Die goldenen Ornamente. Die weißen und vereinzelt roten Rosen, die zu Gestecken geflochtenen auf dem Deckel lagen.

Emotionslos…kein anderes Wort hätte mich in diesem Augenblick besser beschreiben können. Kein anderes Wort hätte mein komplettes Auftreten, meine Körperhaltung und einfach mich selbst besser auf den Punkt treffen können, als emotionslos.

Ich konnte meinen Blick nicht von dem Sarg lösen, weder als der Pfarrer mit den Ministranten herein kam, als er anfing seine  Rede zu halten, die meiner Meinung nach viel zu auswendig gelernt war und zu gespielt und aufgesetzt auf mich wirkte, als Musik ertönte, wieder verstummte, noch als der Pfarrer weiter redete und redete.

Kein vollständiger, geschweige denn sinnvoller Satz gelangte in meinen Kopf. Einzig ein paar Wörter, wie 'viel zu jung', 'warum?' und 'Vergebung'.

An dem Tonfall des Mannes, konnte man die Abneigung gegen die gesamte Situation und damit gegen Alex heraus hören. Oder bildete ich mir das nur ein?

Der Sarg…er konnte genauso wenig wie das Geräusch von Schluchzern oder von geblasenen Rotzfahnen etwas daran ändern, dass keine Regung meinen Körper erfasste und ich einfach komplett unberührt da saß.

Als der Sarg durch den mittleren Kirchengang in die winterliche Friedhofslandschaft getragen wurde, erwachte ich aus meiner Starre und stand auf. Es waren bereits alle anderen aus der Kirche verschwunden. Alle mit Ausnahme, von einer Person. Es war die Freundin meines Bruders. Shirin. Ein hübsches Mädchen, keine Frage, lange braune Haare, die in sanften Wellen über ihre Schultern hingen, ein kurzes Schwarzes, das Ideal ihre Figur betonte, ohne irgendwie billig zu wirken.

Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. Neben ihr fühlte ich mich klein. Ob es nun daran lag, dass sie relativ groß war und ich eher klein, daran, dass sie zusätzlich höhere Absätze trug als ich, oder an dem Altersunterschied von sicher drei Jahren, aber ich fühlte mich wirklich unheimlich klein…

„Risa…“, meinte sie und ich sah kurz zu ihr hoch in ihr makelloserscheinendes Gesicht, ihre dunkelblauen Augen. Sie waren rot umrandet. Kein Wunder. Sie hatte sicher geweint…wie jeder normale Mensch, der nicht ich war.

Shirin war extra aus München gekommen…okay so weit war das auch nicht entfernt, aber trotzdem…Sie hatte meinen Bruder geliebt und er hatte sie geliebt. Sie tat mir leid. Wirklich leid. Oder hätte mir viel mehr leid getan, wenn irgendein menschliches Gefühl an mich heran gekommen wäre.

Folge deinem Herzen bis in den TodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt