Ashley, Februar 2017 (Erfurt)

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Sie war weg. Körperlich nicht, aber geistig war sie schon lange nicht mehr da. Keine Schmerzen. Keine Geräusche mehr. Ashley merkte ab und zu, dass sie unabsichtlich wieder zurück ging, aber das versuchte sie zu verhindern. Es war ihr egal, was mit ihrem Körper gesschah. Es war alles egel. Aber sie war trotzdem positiv. Sie konnte wieder an die schönen Dinge denken. Die Zeit mit Grace. Sie sah das Gesicht vor sich, diese wunderschönen Augen, der lachende Mund. Ashley konnte fliegen, alles hinter sich lassen. Ihre Gedanken flogen über riesige Seen, große Wälder und endlose Wüsten. Die Landschaft unter ihr veränderte sich ständig. Häuser wuchsen in Sekunden und die Jahreszeiten vermischten sich. Es war wunderschön. Immer mit dabei war Grace. Sie flogen zusammen, mal hintereinander, mal nebeneinander. Sie drehten sich, schlugen Saltos und lachten. Es lauerte immer eine dunkle Wolke im Hintergrund mit der Mahnung zurück zu kommen, aber die ließ sich leicht vergessen. Plötzlich donnerte es, aber es regnete noch nicht. Der Himmel war seltsam gelblich verfärbt und die Luft elektrisch aufgeladen. Sie sahen sich einen Moment an und waren sich sofort einig. Das wollten sie sehen. Also flogen sie im Sturzflug runter und landeten sicher. Der Donner krachte über ihnen, es fing an zu regen. Grace schaute nach oben in den Himmel und sah fast traurig aus. Ashley stupste sie mit dem Ellbogen an und guckte fragend. „Manchmal," sagte Grace, „manchmal muss ich an früher denken. Als ich in der normalen Welt gelebt habe. Mit meiner Familie." Sie schaute zu Ashley rüber und musste grinsen als sie deren verwirten Gesichtsausdruck sah. „Ich weiß, du kannst dir das nicht vorstellen. Du warst zu jung. Aber ich weiß alles noch. Meine Mutter," sie stockte bei dem Wort, „sie hat Gedichte geschrieben. Nur für mich, niemand wusste davon. Ich durfte es nicht erzählen. Abends, wenn ich schlafen sollte, hat sie mir erst etwas vorgelesen und danach wollte ich immer noch ein Gedicht hören. Es war ein ganz bestimmtes. Sie nannte es „Am Rand einer Wolke". Als kleines Kind habe ich mich immer über den Titel gewundert, meiner Meinung nach passte er nicht zu dem Gedicht. Er hatte nichts mit den Gefühlen zu tun, die ich mit dem Gedicht verband. Immer wenn meine Mutter dieses Gedicht vorlas, wurde sie traurig. Meiner Mutter gehörte zu den Menschen, die immer fröhlich sind, sie war immer in Bewegung. Aber wenn sie das Gedicht vorgelesen hat, war sie traurig. Gerade diese andere Seite von ihr, wenn sie mich fest in den Arm nahm, habe ich geliebt. Wir waren uns so nah. Später sagte sie mir immer, wenn du irgendwann weg bist und mich schon fast vergessen hast, dann denkst du an das Gedicht. Ich sollte, immer wenn es regnet, in den Himmel schauen und mir in Gedanken das Gedicht selber vorlesen. Sie sagte, so würden wir uns nie vergessen." Eine Träne lief über ihre Wange. Ashley nahm sie in den Arm und fragte vorsichtig: „Darf ich es hören?" Kurz hatte sie Angst vor einer Zurückweisung, aber Grace schloss nur kurz die Augen. Sie atmete tief ein und nickte. Dann setzte sie sich aufrecht hin und räusperte sich kurz.

Wie am Rand einer Wolke weiß ich
Noch immer, wie du sprichst,

Auch dir sind von meinen Worten
Die Nächte heller als Tage geworden.

Wir sind, als vom Erdkreis Verbannte,
Wie Sterne im All aufgegangen.

Keine Verzweiflung und keine Scham,
Nicht heute, nicht künftig, nicht dann.

Doch lebend hörst du im Realen,
Wie ich dich rief unter Qualen.

Und die Türe, die du aufgemacht,
Sie zuzuschlagen, es fehlt mir die Kraft.

Am Anfang war ihre Stimme noch belegt, fast brüchig, aber sie wurde sicherer. Es war richtig, diese Gefühle zu teilen. Ashley war tief berührt. Sie hätte nicht gedacht, dass ihre Liebe zu dem wunderbaren Menschen vor ihr noch tiefer werden könnte, aber es war möglich. Nicht so sehr der Inhalt hätte sie berührt, auch wenn das Gedicht wunderschön war, sondern die Art, wie sie es ausgesprochen hatte. Ihre Stimme hatte all  die Liebe zu ihrer Mutter ausgedrückt, die sie nie deutlich machen konnte. Ashley vermied es immer an ihre Familie zu denken, sie wollte diesen Schmerz nicht ertragen. Aber jetzt überrollte er sie.

Sie hielt es aus. Sie teilte ihre Trauer und konnte es ertragen. Die Gedanken taten gut. All die Schuldgefühle. Es war nur noch wenig in ihrem Gedächtnis, Gerüche und Gefühle, aber keine klaren Dinge. Trotzdem waren die so lang versperrten Erinnerungen schön.

In dem Moment war es vorbei. Ihre Traumwelt mit Grace zerplatzte wie eine Seifenblase. Der Schmerz in ihrer Brust nahm ihr den Atem, sie wollte nur noch weg. Für einen Moment blieb sie wie erstarrt liegen, dann sprang sie auf. Der Schmerz raste wie Messer durch ihren Körper, nichts blieb verschont. Nur entfernt nahm sie den erschrockenen Mann an ihrem Bett wahr. Der Schmerz tobte. Alles zerbrach. Sie taumelte nach hinten, konnte sich nicht mehr halten. Alles sah rot aus, es tat so weh. Sie verlor endgültig das Gleichgewicht und fiel.

Es war egal.

Am Rand einer Wolke *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt