Ben, Januar 2017 (Erfurt)

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Einletzter Rundgang. Es war kurz vor fünf. Also kurz vor Schichtende. Er machte sichzum wiederholten Mal auf zu den Räumen im zweiten Stock. Alles war ruhig, sowie immer. Er zählte in Gedanken die Schritte, es waren genauso viele wie jedenTag. Dann kam die Treppe. 22 Stufen, dann 3 Schritte bis zur Tür. Hier obenwaren nur noch wenige Leute. Er zählte langsam mit. Schritt 2, 1. Tür. Erschaute kurz rein, alles ok. Dann weiterer 2 Schritte und die nächste Tür.Insgesamt waren es 5 Türen in diesem Gang. Zwei auf der linken, und drei aufder rechten Seite. Hinten war ein Fenster. In diesem Gang war alles anders, irgendwiefriedlich. Noch ruhiger als in den anderen Gängen, wenn das überhaupt möglichwar. Er war auf der rechten Seite an den drei Türen vorbei und wendetet sichden verbleibenden Türen zu. Er beschäftigte sich gerne nur mit den Türen, um dieMenschen dahinter vergessen zu können. Er wollte nichts mit ihnen zu tun haben,nicht mal wissen, dass es Menschen sind. Der Raum hinter der ersten Tür warleer, im zweiten waren die Vorhänge zugezogen. Der Fernseher lief nicht, aberdas war nicht ungewöhnlich bei den Neuzugängen. Sie verstanden noch nicht wiees hier lief. Es schien, als wäre alles gut, aber plötzlich sah er durch dieScheibe an der Tür, dass das Mädchen die Augen geöffnet hatte. Das war etwasneues. Er wollte vorbei gehen, als der Blick des Mädchens ihn traf. Mit einemSchlag war sein Gedankenspiel mit den Türen vorbei. Seine Freundin sagte immer,mit Leuten wie diesen, wollte sie nichts zu tun haben. Aber sie war anders. Ersah in ihrem Blick als erstes Neugier. Diese Neugier nahm ihn gefangen. Es warwie die Sehnsucht von einem kleinen Kind nach der Welt. Diese Lust alles zuentdecken, in dem Vertrauen, dass ihm nichts passieren konnte. Als zweites saher in ihren Augen die Angst. Es war nicht die Angst wie bei normalen Kindern,es war Panik. Diese Panik konnte nur jemand haben, der etwas wirklichschreckliches erlebt hatte. Die Neugier verschwand in ihren Augen, sieverschloss sich. Voller Panik, aber auch voller Wut starrte sie ihn an. Es warals wollte sie ihn herausfordern, zu ihr rein zu kommen, aber hattegleichzeitig panische Angst davor, was dann passieren konnte. Vorsichtig hob ereine Hand, wollte ihr zeigen, dass von ihm keine Gefahr drohte. Kurz sah sieihn noch an, dann bewegten sich am Fenster die Vorhänge im Wind. EinLichtstrahl fiel auf ihr Gesicht, er sah den Schmerz in ihrem Gesicht, den Mundzu einem wortlosen Schrei geöffnet, den Oberkörper leicht erhoben. Dann machtesie die Augen zu und ihr Körper fiel zurück auf die Matratze. Ben war teilweiseenttäuscht, aber auch erleichtert über diese Entwicklung. Er musste nichtsmachen, konnte wie gewohnt nach Hause gehen. Durch diese Aktion war er schonzwei Minuten später unten als sonst, beeilte sich seine Schlüssel abzugeben undging nach unten in die Tiefgarage. Äußerlich war alles wie immer, aber erwusste, dass dieser Blick des Mädchens ihn verändert hatte und mit dieserVeränderung musste er jetzt klar kommen.

Am Rand einer Wolke *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt