Kapitel 10
Sonntag früh schalte ich mein Handy wieder ein, über Nacht ist es immer aus, um nicht von Caprice in aller Frühe geweckt zu werden. Eine SMS wartet im Posteingang. Sie ist von Daniel, er muss sie gestern Abend noch geschickt haben, nachdem wir uns verabschiedet haben. Er schreibt, dass er etwas zu erledigen hat und heute nicht erreichbar sein wird. Obwohl ich es nicht will, kann ich doch nicht verhindern, enttäuscht darüber zu sein. Wie ich nun feststelle habe ich mich bereits daran gewöhnt, täglich von ihm zu hören. Dennoch vergeht der Sonntag recht schnell, denn ich treffe mich mit Caprice und gehe den gestrigen Nachmittag mit ihr durch, sie will jedes Detail wissen. Sie ist ganz aufgeregt und freut sich nun, dass sie mal diejenige ist, die mir zuhört und Tipps geben kann. Anscheinend hat sie wirklich verstanden, dass sie keine Chance bei Daniel hat, ich freue mich, dass sie das so gelassen verarbeitet hat und sich nun sogar für mich freut. »Bist du eigentlich traurig oder enttäuscht?«, spreche ich am Nachmittag das Thema an. »Wegen Daniel?« Caprice schaut auf ihre Hände und scheint um eine Antwort zu ringen. Ich nicke nur und sie nimmt es aus den Augenwinkeln wahr. »Es ist seltsam«, sagt sie schließlich. »Sonst bin ich immer diejenige, die alles bekommt, was sie will. Und nun bist du mal diejenige, die das erhält, was ich eigentlich wollte. Ich war erst sauer auf dich, doch dann wurde mir klar, dass du es echt mal verdient hast und auch endlich glücklich sein sollst.« Nun sieht Caprice mich an. »Und das meine ich ernst, Dawn.« Ich glaube ihr sofort und lächele scheu, diese neue Situation überfordert mich ein wenig und ich bin mir nicht sicher, wie ich damit umgehen soll. »Ich verstehe dich schon, Cap. Es ist wirklich seltsam, vor allem, da alles so verkehrt erscheint.« Caprice nickt. »Aber es ist auch schön, dass es mal so rum ist. Wenn du mich fragst, hätte es damals bei Robin schon so laufen sollen.« Ich schaue sie an. »Meinst du?« Sie nickt wieder. »Ja, er stand voll auf dich. Er hatte nur nicht die Eier, sich gegen den Mainstream zu stellen.« Ich denke an die Zeit zurück, als Robin neu in unsere Klasse kam. Die ersten Tage war er total nett zu mir, hat mich angelächelt, mit mir geredet und ich war nach und nach sogar ein wenig aufgetaut. Doch dann hat er sich Jeromes Clique angeschlossen. Plötzlich behandelte er mich wie Dreck und redete kein Wort mehr mit mir, außer um mich wie die anderen zu beleidigen oder anders fertig zu machen. Ich war dermaßen enttäuscht, dass ich mir geschworen habe, nie wieder jemanden an mich heranzulassen oder auch nur ein bisschen Vertrauen zu fassen. Doch nun habe ich mich ein bisschen auf Daniel eingelassen und hoffe inständig, dass es nicht genauso laufen wird wie das letzte Mal. Sofort sind wieder die Zweifel da, die mich immer häufiger überkommen, wenn ich an ihn denke. Was ist, wenn es sich bei Daniel auch auf einen Schlag so sehr ändert? Bin ich überhaupt noch in der Lage, damit klar zu kommen, oder ist es schon zu spät für mich und ich habe mich in ihn verliebt? »Daniel hat mit Sicherheit mehr Eier als Robin. Ich glaube nicht, dass er sich einfach so von Jerome und seine Clique einfangen lässt wie ein halb verhungerter Fisch. Er wird dich nicht fallen lassen.« Caps Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe sie an und frage mich, woher sie das wissen will? »Dawn, nun sei doch endlich mal ein ganz normales siebzehn jähriges Mädchen. Deine einzige Sorge sollte sein, was du bei eurem nächsten Date anziehst. Apropos anziehen, wir müssen morgen unbedingt shoppen gehen und dir definitiv was Neues besorgen.« Ich verdrehe die Augen. »Meine Eltern werden mir niemals Geld für Klamotten geben und das weißt du auch. Ich muss nicht nackt rumlaufen, also habe ich genug zum Anziehen, wenn es nach ihnen geht.« Caprice überlegt einen Moment, holt ihr Smartphone heraus und tippt eine Weile darauf herum. »Ha«, ruft sie plötzlich triumphierend aus. »Wusste ich es doch.« Cap sieht mich an und strahlt. »Heute ist verkaufsoffener Sonntag im Marktplatzcenter. Lass uns los ziehen und die Läden plündern, als gäbe es kein Morgen. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht etwas finden, was deinen Daniel so richtig aus den Socken haut!« Ich verdrehe die Augen, manchmal hört sie mir echt nicht zu. »Ich hab dir doch gesagt, dass meine Eltern mir kein Geld für Klamotten geben werden. Und Taschengeld bekomme ich nicht, wie du dich sicherlich erinnern kannst.« Caprice ist still, bis ein kleines Lächeln um ihre Mundwinkel herum erscheint. »Lass mich das nur machen.« Sie verschwindet aus meinem Zimmer und bleibt einige Minuten lang verschwunden. Als sie zurückkommt, wedelt sie mit zwei Fünfzigern in der Hand herum und grinst mich breit an. »Bin ich ein Genie oder was?« Das ist mit Sicherheit ihr Geld, war sie schnell bei der Bank? »Ich nehme kein Geld von dir an, Cap. Erstens kann ich dir das niemals zurückzahlen und zweitens hört bei Geld die Freundschaft auf.« Nun verdreht Caprice die Augen. »Das ist von deiner Mom.« Ich starre die Fünfziger in ihrer Hand an. Das kann gar nicht sein, selbst wenn Mutti mir Geld geben würde, dann mit Sicherheit keine einhundert Euro, höchstens zwanzig, und da erwartet sie auch noch, dass ich mit mindestens zwei Hosen und einem Pulli nach Hause komme. »Sehr witzig Caprice«, sage ich, ohne zu lächeln, und in dem Moment geht die Tür auf. Mutti steckt den Kopf herein und lächelt mich fast schüchtern an. »Reichen dir die einhundert Euro? Sonst kann ich auch Papa fragen, ob er noch Geld im Portemonnaie hat.« Ich starre sie nur erstaunt an. »Was ist?« Muttis Gesichtsausdruck wechselt von schüchtern zu besorgt. »Brauchst du mehr für deine Sachen?« Schnell schüttele ich den Kopf. »Nein, nein, ich bin nur überrascht, das ist alles.« Mehr weiß ich nicht zu sagen außer: »Danke.« »Gern geschehen.« Mutti zieht sich zurück und ich bleibe verblüfft mit Caprice allein, die mich weiterhin angrinst. »Du kannst mir später danken«, sagt sie und drückt mir das Geld in die Hand. »Was hast du ihr gesagt?« Ich starre Cap an, als würde ein Außerirdischer vor mir stehen, anders kann ich mir den Sinneswandel meiner Eltern einfach nicht erklären. Wie oft ich selbst meine Eltern schon um Geld angebettelt habe, kann ich gar nicht mehr zählen. Caprice zuckt mit den Schultern und antwortet lediglich: »Das bleibt mein kleines Geheimnis. Nur so viel: Manchmal muss man eben auf die Tränendrüse drücken.« Ich ziehe meine Augenbrauen nach oben, doch Caprice sagt nichts weiter und wenig später haben wir uns auch schon angezogen und machen uns auf den Weg in die Innenstadt. Da die Stadtbusse am Sonntag so selten fahren, gehen wir zu Fuß und ich genieße es, mit Cap durch die Natur und anschließend durch die Stadt zu schlendern. Nach einer knappen dreiviertel Stunde haben wir unser Ziel auch endlich erreicht. Da der verkaufsoffene Sonntag nicht allzu oft stattfindet, ist es hier ganz schön voll und ich fühle mich zwischen den vielen Menschen zunehmend unwohler. Caprice und ich zwängen uns durch die Drehtür und schlagen den Weg zum New Yorker ein. Er liegt im ersten Stock und auch hier drängen sich viele Kunden in den engen Gängen, wobei sie ihre Ellenbogen rücksichtslos einsetzen. Hauptsächlich junge Leute, die ungefähr in meinem Alter sein müssten. Caprice bugsiert mich zu einigen sexy Oberteilen und ich schaue sie zweifelnd an. Sie verdreht die Augen spielerisch gegen Himmel. »Dawn, du hast eine tolle Figur, du solltest sie auch endlich mal zeigen und nicht immer hinter so weiten Teilen verstecken.« Ich zucke mit den Schultern. Es kann ja nicht schaden, ein bisschen herum zu probieren. Also schnappe ich mir das enge Oberteil, das sie mir hinhält, und bahne mir einen Weg zu den Umkleidekabinen, wo ich einen Moment warten muss, ehe endlich eine frei wird. Ich ziehe mir das Teil an und Caprice kommt mit weiteren Klamotten an, in die ich mich hinein zwänge. Gute zwei Stunden später bin ich total k. o. und mit mehreren Tüten bepackt verlassen wir das Marktplatzcenter. Nachdem wir bei New Yorker fündig geworden sind, gehe ich noch zu Thalia, um mich mit neuem Lesestoff einzudecken. Caprice kann das zwar so gar nicht verstehen, aber das ist mir egal. Ich brauche einfach neue Bücher, sie sind mein Rundum-sorglos-Paket wie für andere ein Besuch im Wellnescenter. Aber auch Caprice ist fündig geworden und trägt jetzt drei Tüten mit Klamotten zur Bushaltestelle. Ihre Eltern sind reich, deswegen besitzt Cap auch eine Kreditkarte und kann kaufen, was und so viel sie möchte. Natürlich darf es bei ihr nur das Beste sein. In meinen Einkauftüten befinden sich nun zwei neue Strechjeans, die meine Rundungen vorteilhaft zur Geltung brachten. Eine in Schwarz, um mich schlanker zu machen, wie Caprice meint, und eine in dunkelblau. Dazu habe ich mehrere Oberteile erstanden. Am besten gefällt mir ein Long Shirt, das bis unter den Po reicht und einen breiten, enganliegenden Bundabschluss hat. Es wirkt unten wie ein Rock und über den Oberkörper fällt es recht locker. Ein V-Ausschnitt zeigt viel von meinem Dekolleté und wenn mir danach ist, kann ich es über eine Schulter hinunter hängen lassen. Die Farbe ist ein schönes Mitternachtsblau. Caprice gefällt ein anderes Top in Schwarz besser, es ist kurz, hat dreiviertel Ärmel und einen Ausschnitt, der kaum noch etwas der Fantasie überlässt. Es liegt sehr eng an und endet knapp über der Hüfte. Bei welchen Gelegenheiten ich das tragen soll, ist mir ein Rätsel, aber Cap zuliebe habe ich es mitgenommen. Zwei weitere Longshirts wandern auch noch in meinen Kleiderschrank und trotz allem habe ich sogar noch Geld übrig, mit dem ich mein halb verhungertes Sparschwein füttern kann. Alles in allem war es ein wirklich schöner Nachmittag. Ich fühle mich, als wäre ich ein normales Mädchen, das mit seiner besten Freundin shoppen war, und nicht dieser Außenseiter, mit dem niemand etwas zu tun haben will. »Danke, Cap«, sage ich, als wir an der Bushaltestelle sitzen und warten. Denn wir haben wirklich keine Lust, das ganze Zeug zu Fuß nach Hause zu schleppen, auch wenn wir vermutlich früher daheim wären. »Jederzeit wieder, Süße.« Caprice zwinkert mir zu und ich kann gar nicht ausdrücken, wie viel mir dieser Nachmittag wirklich bedeutet. »Hey«, sage ich mit einem Grinsen, »nun brauchst du mich in der Schule nicht mehr ständig mit deinen Shoppingtouren zu nerven.« Caprice lacht. »Oh, und wie ich dich weiterhin nerven werde, Dawn. Da brauchst du dir gar keine falschen Hoffnungen zu machen, immerhin ist dein Kleiderschrank viel zu groß und leer für das bisschen, was du hast. Und selbst wenn er kurz davor ist zu platzen, hast du noch lange nicht genug.« Ich stimme in ihr Lachen mit ein und bin mir sicher, dass mir Generve fehlen würde, wenn sie es tatsächlich einmal lassen sollte, immerhin ist es in der Zwischenzeit so etwas wie unser Freitagsritual. Der Bus kommt und wir steigen ein. An der Haltestelle, wo wir aussteigen, verabschieden wir uns, denn von hier aus haben wir ungefähr denselben Weg nach Hause, nur eben in verschiedene Richtungen. Zu Hause wartet Mutti bereits auf mich und empfängt mich mit einem Lächeln, was relativ ungewöhnlich. Ich frage mich, was Cap ihr wohl erzählt haben mag. »Seid ihr fündig geworden?«, fragt sie. Ich nicke und habe für einen Moment vor, einfach hoch in mein Zimmer zu hasten, überlege es mir dann jedoch anders. »Ja, möchtest du es dir ansehen?« Mutti lächelt begeistert und begleitet mich auf mein Zimmer. Wir packen gemeinsam meine neuen Klamotten aus und sie begutachtet jedes Teil. Bis auf das Oberteil, das Caprice ausgesucht hat, gefallen ihr die Sachen sehr gut. »Ich hoffe, du lässt dir noch viel Zeit, bis du das hier einmal anziehst.« Sie hält das Top in die Höhe und rümpft die Nase. »Keine Sorge«, sage ich und muss grinsen. »Ich habe im Moment keinen Bedarf, dies wirklich zu tragen. Caprice meinte, es würde mir sehr gut stehen, und hat mir keine Ruhe gelassen, bis ich es mitgenommen habe.« Mutti schaut noch eine ganze Weile das Top an, bis sie schließlich seufzt. Ich ziehe die Augenbrauen nach oben und frage mich, was jetzt wohl kommt. »Du solltest es anziehen, Dawn.« Mir klappt der Mund auf. Meine ach so konservative Mutter sagt mir, dass ich ein sexy Oberteil anziehen soll, bei dem kaum noch etwas der Fantasie überlassen bleibt. Mutti lächelt über meinen Gesichtsausdruck. »Du kannst so etwas tragen, die Figur hast du und du wirst nun mal zu einer jungen Frau, Liebes. Und deine alte Mutter muss sich damit abfinden.« Ihr Gesicht wird etwas wehleidig. »Du bist so schnell groß geworden. Ich war noch so jung, als du geboren wurdest, und ich bezweifle, dass ich dir immer eine gute Mutter war.« Mutti scheint nun in Erinnerungen zu schwelgen und ich weiß nicht, was ich zu ihrem plötzlichem Geständnis sagen soll. »Ich weiß noch, als du geboren wurdest, kam dein Opa ins Krankenhaus. Du warst die erste Enkeltochter, alle anderen waren Enkelsöhne. Er stand vor deinem Bettchen und hat dich wie ein kleines Wunder angeschaut. Dann hat er gesagt: »Schau doch mal, sie hat alle Finger und alle Zehen. Er war total begeistert von dir.« Mutti lächelt mich liebevoll an. Sie hatte mir schon oft diese Geschichte erzählt, doch ich höre sie immer wieder gerne. Ich liebte meinen Opa abgöttisch, er war der Einzige, der mir immer das Gefühl gab, etwas ganz Besonderes zu sein und bedingungslos geliebt zu werden. Doch leider ist er schon gestorben, der Krebs hatte ihn vor einem Jahr dahingerafft. Bis heute kann ich es nicht richtig fassen und auch Mutti leidet immer noch darunter. Sie lächelt mich an und ich sehe ganz genau, dass sie versucht, die Tränen zurückzuhalten und wie immer schafft sie es auch. Darin ist sie Meisterin, vermutlich hat sie von Opa gelernt, immer nur gute Laune zu verbreiten und keine Schwäche zu zeigen, Tränen gehörten nun einmal nicht dazu. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, denn ich habe nie gelernt, was man macht, wenn jemand traurig ist. In unserer Familie wird immer alles tot geschwiegen, über Gefühle wird überhaupt nicht gesprochen. Wenn wir doch mal traurig sind, heißt es immer nur, dass wir uns zusammen reißen sollen, das Leben gehe weiter. Mutti steht auf und lächelt mich noch einmal an, bevor sie den Raum verlässt. Ich schaue lange auf die Tür und hänge meinen Gedanken nach, doch dann schnappe ich mir die neuen Sachen und sortiere sie in meinen Schrank ein. Die Jeans und das mitternachtsblaue Longshirt werde ich gleich morgen anziehen. Der Abend vergeht schneller als gedacht und schon bald liege ich im Bett.
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Dawns Liebe - Einmal Himmel und zurück
FantasyDawn ist eine Einzelgängerin wie sie im Buche steht, sie hat nur eine Einzige Freundin, Caprice. Alle anderen meiden sie wie die Pest. Mit ihren siebzehn Jahren, hat sie sich bereits an dieses Leben gewöhnt und ihr dickes Fell hilft ihr, diesen Allt...