Kapitel 15
Daniel sieht mich prüfend an, ich glaube, er will herausfinden, ob ich gleich ausflippe. Und ich bin tatsächlich kurz davor, denn meine Gedanken überschlagen sich. Was zum Teufel ist hier los? War das wirklich ein Engel, und wenn ja, warum wollte er Daniel umbringen? Ich sehe Daniel an und weiß, dass mir tausend Fragezeichen um den Kopf schwirren müssen. Er ist wieder völlig unversehrt, wo er vor Kurzem einige heftige Schläge mit dem Schwert abbekommen hat und nun eigentlich tiefe Wunden sein müssten, ist nun nichts mehr zu sehen, nur im Pullover sind noch Risse, die von dem Kampf zeugen und mir beweisen, dass ich mir nicht alles eingebildet habe. Daniel nimmt meine Hand und ich bin noch so konfus von den Ereignissen, dass ich mich einfach mit ihm ziehen lasse. Wir setzen uns auf die Decke und Daniel fängt an zu sprechen: »Dawn, ich weiß, dass du hundert Fragen haben musst. Lass mich bitte erklären.« Seine Stimme reißt mich aus meiner Trance. »Ja, dann fange bitte damit an, warum dir drei Flügel aus dem Rücken geschossen sind und warum deine Wunden einfach so verschwunden sind, als hättest du nie auch nur einen Kratzer abbekommen.« Daniel seufzt, er hat wohl gehofft, dass ich dieses Thema als Letztes ansprechen würde. »Ich besitze diese Flügel, weil ich der oberste Erzengel bin, also so etwas wie der Chef von allen anderen Engeln. Und meine Wunden verheilen so schnell, weil das bei Engeln nun mal so ist, denn wir sind unsterblich.« Meine Augenbrauen hebend schaue ich ihn an. Das ist seine Erklärung? »Ich bin der Anführer der Engel, Dawn. Mir unterstehen alle Erzengel, ich bin Gottes rechte Hand.« »Es gibt einen Gott?« Ich kenne natürlich die verschiedenen Religionen und so weiter, aber wirklich daran geglaubt habe ich nie, doch nun habe ich mit eigenen Augen den Beweis gesehen, dass es wirklich mehr geben muss, als ich bisher geglaubt habe. Daniel schmunzelt vor sich hin. »Ja, den gibt es.« »Aber warum gibt es dann so viel Leid unter den Menschen? Warum die Naturkatastrophen in der letzten Zeit? Warum macht er nichts dagegen?« Wieder seufzt Daniel und plötzlich wirken seine Augen unendlich alt. »Wegen dem freien Willen.« Ich verstehe nur Bahnhof. Was hat das Ganze mit dem freien Willen zu tun? Daniel muss meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben, denn er beantwortet meine unausgesprochene Frage: »Die Entscheidungen der Menschen führen zu dem ganzen Leid. Wenn Gott eingreifen würde, würde er den freien Willen untergraben, den er jedem seiner Geschöpfe gegeben hat.« »Aber wenn es das Leid auf der Erde lindert? Es wäre doch nur zum Besten der Menschen.« Daniel schmunzelt und in seinen Augen erscheint wieder dieser uralte Blick. »Das habe ich den Schöpfer auch schon so oft gefragt.« Daniel wirkt irgendwie müde und ich frage mich, ob das alles nicht doch nur ein Traum ist. So etwas kann es doch nicht in echt geben. Und müsste ich nicht eigentlich total ausflippen? Stattdessen bin ich ganz ruhig und gelassen, was mich selbst ein wenig verwundert. Daniel grinst und ich hebe die Augenbrauen. Ob er nun auch noch meine Gedanken lesen kann? Augenblicklich laufe ich rot an. »Was denkst du gerade?«, fragt er. Puh, also doch kein Gedankenleser, Gott sei Dank. Plötzlich bekommen diese drei Worte eine ganz andere Bedeutung. Ich hebe den Blick zur Decke des Belvederes. »Aber sind diese Naturkatastrophen auch Auswirkungen der Entscheidungen der Menschen? Warum tut er dagegen nichts? Die Natur können wir doch nur bedingt beeinflussen.« Traurig schaut Daniel mir in die Augen, als er leise sagt: »Nein, die Menschen haben mit den Naturkatastrophen nichts zu tun. Aber Azzael.« Erstaunt hebe ich einen Finger und zeige Richtung Decke. »Du meinst, der Typ ... ?« Daniel nickt. »Ja, er will die Menschen ausrotten und die Erde mit Engeln bevölkern.« In meinem Kopf rattert es nur noch und ich habe Angst, dass mir gleich Dampf aus den Ohren steigt wie in einem dieser Comics. Sollten Engel nicht gut sein und uns Menschen beschützen? Unfähig, auch nur irgendetwas zu sagen, starre ich Daniel weiter an. Es vergehen einige Sekunden, bis ich meine Gedanken geordnet habe und wieder bereit bin, ihn zu fragen. »Sind alle Engel außer dir böse?« Daniel lächelt. »Nein, es ist eher so, dass fast alle Engel außer ihm gut sind und die Menschen beschützen wollen.« Das ist ja schon mal sehr beruhigend. Doch mein Gehirn kann die Tragweite des Geschehens noch nicht so ganz begreifen und meine Fragen gehen alle durcheinander. »Was machst du hier auf der Erde, wenn du doch der Boss von allen bist? Solltest du nicht da oben sein und darauf achten, dass so etwas nicht passiert?« Daniel seufzt tief. »Ja, eigentlich sollte ich das.« Geduldig warte ich, ob er weiterspricht, doch anscheinend will er dazu nichts mehr sagen, also frage ich weiter nach: »Warum bist du dann hier?« Mit einem gequälten Ausdruck in den Augen sieht er mich an. »Deinetwegen.« Ich spüre, wie meine Wangen heiß werden, doch bevor ich genauer nachfragen kann, spricht er auch schon weiter: »Dawn, ich möchte, dass du nach Hause gehst, wenn ich gleich verschwinde. Ich weiß nicht, wie lange dein Abwehrspruch Azzael im Himmel halten wird.« »Mein was?« Der gequälte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwindet. »Der Spruch, den du gesagt hast, damit Azzael wieder in den Himmel gezogen wurde.« »Kannst du mir mal erklären, was es damit auf sich hat? Woher wusste ich diese Worte?« Daniel lächelt. »Elion hat sie dir eingeflüstert. Sie sind eine Passage aus der Bibel. Die Bibel ist Gottes Wort und nichts kann sich dem entgegensetzen. Ich habe mich demütig auf die Erde niedergelassen, um zu zeigen, dass ich dir nichts Böses wollte. Alles und jeder, der dir etwas antun will, während du diese Worte sprichst, wird an seinen ursprünglichen Platz zurückgeschleudert.« Okay, ich habe nicht ansatzweise verstanden, was Daniel damit meint. Doch wer oder was ist Elion? »Wer ist Elion?« »Er ist dein Schutzengel. Er passt auf dich auf und macht seine Sache wirklich gut.« Ich schaue mich um, kann aber nirgendwo jemanden entdecken. Wenn ich Daniel und Azzael sehen kann, müsste ich dann nicht auch Elion sehen können? Als ich zurück zu Daniel schaue, schmunzelt er wieder. »Du kannst ihn nicht sehen. Nur ich kann das, da ich sein Auftraggeber bin.« »Ist er die Stimme in meinem Kopf, die mir manchmal Dinge sagt und denen ich mich einfach nicht widersetzen kann?« Daniel nickt. »Ja, aber nicht alle Ideen kommen von ihm. Es gibt für dich allerdings keine Möglichkeit, das zu unterscheiden.« Als ich darüber nachdenke, fallen mir wieder die Zweifel ein, die ständig durch meinen Kopf spukten, selbst als mein Verstand Daniel vertrauen wollte. »Hat er mir dann auch die Zweifel dir gegenüber eingeredet?« Daniels Miene verfinstert sich. »Nein, das war Raziel. Als ich auf die Erde ging, habe ich Azzael das Kommando übergeben. Ich hab ihm vertraut, was ein Fehler war, wie sich nun herausgestellt hat.« Schmerz erscheint während dieser Worte auf Daniels Gesichtszügen. »Er hat zugelassen, dass Cassiel ihren Racheengel als deinen Schutzengel einsetze. Deswegen die ganzen Zweifel und Ängste. Das war auch der Grund, warum ich zwischenzeitlich verschwunden war. Ich war im Himmel und musste einige Dinge klären. Unter anderem, dass Elion wieder dein Schutzengel wurde.« Das sind so viel Informationen, dass ich Probleme habe, alles zu verarbeiten, ohne es durcheinanderzubringen. »Ich muss auch jetzt noch einmal zurück in den Himmel.« Daniel steht auf und reicht mir seine Hand, um auch mir aufzuhelfen. »Ich möchte, dass du nach Hause gehst, Dawn. Ich melde mich bei dir, sobald ich zurück bin.« Ich schüttele den Kopf, das Warten würde ich nicht aushalten. »Kann ich nicht hier auf dich warten?« Daniel schüttelt den Kopf. »Das geht nicht. Die Zeit vergeht im Himmel anders als hier unten. Wenn ich nur eine Stunde dort oben bin, vergeht hier unten ein ganzer Tag.« Daniel kommt näher und nimmt mein Gesicht in seine Hände. »Ich komme zurück, Dawn, versprochen. Wenn ich durch das Tor gegangen bin, möchte ich, dass du gehst.« Seine blauen Augen hypnotisieren mich förmlich und ich kann nur noch nicken. Er lächelt. »Braves Mädchen.« Ich hebe eine Augenbraue, um meinen Unmut auszudrücken. Daniel durchschreitet den Tempel bis zum hinteren Ende. Er bleibt kurz stehen und läuft dann weiter, um hinten durch die Säulen hinauszugehen. Ob er gleich in einem Lichtstrahl verschwindet? Doch er dreht sich nur um, kommt wieder herein und macht das Ganze noch einmal. Wieder geht er einfach durch die Säulen nach draußen. Doch sonst passiert nichts. Er verschwindet nicht, es brechen auch keine Schwingen hervor, mit denen er in den Himmel fliegen könnte. Er dreht sich zu mir um und ein frustrierter Ausdruck liegt auf seinem Gesicht. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Daniel kommt zurück zu mir und sagt: »Ich komme nicht mehr in den Himmel. Ich muss mit Gabriel Kontakt aufnehmen. Komm mit.« Er packt meine Hand und zieht mich hinter sich her, bevor ich auch nur protestieren kann. Ich folge ihm hinunter zu dem See, er mietet sich ein Boot und fährt mit mir hinaus. Kein guter Zeitpunkt für eine romantische Bootsfahrt, denke ich mir noch, während mein sonst so redseeliger Begleiter schweigt wie ein kaltes Grab. Daniel steuert das Boot in eine entlegene Ecke des Sees, wo uns keiner sehen kann. Dann wirft er den Anker aus. »Komm her.« Daniel winkt mich zu sich, er kniet an einer Seite des Bootes und schaut ins Wasser. »Normalerweise würde ich meinen tragbaren Brunnen verwenden, aber da könntest du nicht zuschauen, deswegen nutzen wir heute den See.« Daniel streicht mit der Hand über das Wasser und plötzlich flackert ein Bild auf der Oberfläche auf. Es sieht aus, als würde jemand einen Film abspielen. Auf der Oberfläche erscheint das Gesicht eines Mannes. Er hat graue Augen und braune Haare, die ihm glatt über die Schulter hängen. »Gabriel, mein alter Freund«, begrüßt Daniel den Fremden. »Daniel.« Gabriel nickt mit dem Kopf, doch sein Gesicht ist gezeichnet von Sorge. »Ich kann nicht zurück in den Himmel«, kommt Daniel gleich auf den Punkt. »Weißt du warum?« Gabriel schüttelt den Kopf. »Nein, das kann ich dir nicht sagen. Aber ich höre mich gerne einmal um.« »Ja das wäre toll. Azzael war gerade hier auf der Erde, er hat versucht, mich unschädlich zu machen. Ich verstehe nicht, warum er mich angegriffen hat, solange er das Schwert nicht hat, kann er mich doch ohnehin nicht töten. Und von dem Schwert weiß er doch noch nichts, oder?« »Soweit ich weiß nicht. Allerdings vertraut er mir nicht und wird mir gegenüber so etwas wohl nicht erwähnen.« Daniel nickt nachdenklich, während ich weiterhin Gabriel anstarre, ungläubig, ein Gesicht in der Wasseroberfläche zu sehen, wo sich höchstens die Wellen kräuseln sollten. Der dritte Engel, den ich heute zu Gesicht bekomme. Gabriels Blick fliegt zu mir. Er schaut mich an, lächelt und sagt: »Hallo, schön dich wiederzusehen, Dawn.« Meine Wangen werden heiß. »Ha ... Hallo.« Gabriels Lächeln wird breiter, bevor sein Gesicht wieder ernst wird und er Daniel anschaut. »Und hast du bereits eine Lösung gefunden? Du weißt schon, wegen des Schwertes.« Daniel schüttelt frustriert den Kopf »Nein leider nicht. Ich weiß nicht, wie wir unter Milliarden von Menschen einen finden sollen, der die Macht dazu hat. Ich weiß auch nicht, woran wir denjenigen erkennen sollen.« Verwirrt schaue ich von einem zum anderen. Wovon reden die da? Und was wollen die mit einem Schwert, wenn Engel nicht sterblich sind? »Dawn scheint voller Fragen zu sein«, sagt Gabriel mit einem Schmunzeln im Gesicht. Mein Gesicht war gerade wieder abgekühlt und nun wird es erneut ganz heiß. Daniel lächelt mich an. »Ich werde dir das alles erklären.« Zu mehr als einem Nicken bin ich nicht fähig. »Ich werde schauen, dass ich herausbekomme, warum du nicht mehr in den Himmel kannst, Daniel.« Daniel nickt. »Ok, dann melde dich wieder.« Diesmal nickt Gabriel. Daniel fährt noch einmal mit der Hand über das Wasser und Gabriels Abbild verschwindet. Wir sitzen noch eine kleine Weile da und betrachten das Wasser. Daniel scheint völlig in Gedanken versunken zu sein und dabei zu vergessen, dass ich auch noch mit hier bin. Nach einigen Minuten sieht er mich an und sagt: »Ich bringe dich jetzt nach Hause.« »Was?« »Es ist spät genug, du brauchst deine Ruhe und du hast eine ganze Menge zu verarbeiten.« Ich fasse es nicht. Er zieht mich in einen Kampf zwischen Engeln hinein, sagt mir, er sei meinetwegen auf die Erde gekommen, und will mich jetzt mit tausenden Fragen nach Hause schicken? Das kommt überhaupt nicht in Frage. »Ich gehe nirgendwo hin, Daniel.« Überrascht über meinen Harschen Tonfall hebt Daniel beide Augenbrauen und schaut mich fragend an. »Ich habe so viel Fragen, wie soll ich das alles verarbeiten, wenn mir nicht eine davon beantwortet wird und alles ein riesiges Chaos bleibt?« »Dawn« Daniels Stimme klingt beruhigend. Er spricht mit mir, als sei ich ein aufgebrachtes Pferd, das man erst besänftigen müsste. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen, verschränke die Arme vor der Brust und starre ihn stur an. »Ich werde dir ja alles erklären«, sagt er, »aber du brauchst erst einmal Ruhe.«
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Dawns Liebe - Einmal Himmel und zurück
FantasíaDawn ist eine Einzelgängerin wie sie im Buche steht, sie hat nur eine Einzige Freundin, Caprice. Alle anderen meiden sie wie die Pest. Mit ihren siebzehn Jahren, hat sie sich bereits an dieses Leben gewöhnt und ihr dickes Fell hilft ihr, diesen Allt...