6. Kapitel- Seelen

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Das Kinoprogramm für Oktober ließ sehr zu wünschen übrig. Tatsächlich fand sie von den frisch angelaufenen Filmen keinen passend. Sie wollte nicht in einem Kriegsfilm oder einen Horrorfilm mit ihm gehen. Er erlebte so schon genug Horror, da sollte die Story des Films möglichst nicht auch noch davon geprägt sein. Zum Glück spielte das Kino im fünften Quarter samstags Filme aus den letzten sechs Monaten noch mal. Heute waren es unter anderem „Seelen" und ein Deutscher Film mit Untertiteln, der mitten in der Nacht lief und in Deutschland wohl so gut angekommen war, dass er jetzt auch in britischen Kinos ausgestrahlt wurde über eine Schule und eine chaotische zehnte Klasse. Clara hob ein wenig die Augenbrauen. Als sie noch in Nordengland gewohnt hatte, hatte das örtliche Kino bestenfalls amerikanische Produktionen gezeigt. Generell war das Kino in dem kleinen Ort eine ziemliche Katastrophe gewesen. Sie schüttelte den Kopf. Seufzend scrollte sie durch das Programm und kaute auf ihrer Unterlippe. Schließlich musste sie einsehen, dass „Seelen" wohl die einzige annehmbare Mischung zwischen explodierenden Autos bei Verfolgungsjagden und absoluten Schnulzen war. Clara war persönlich kein Twilight-Fan. Stephanie Meyer schrieb zwar ganz annehmbar, aber die Geschichte hatte ihr nicht besonders gefallen und sie hatte den weltweiten Megahype, der bis vor zwei Jahren darüber geherrscht hatte, nie so richtig nachvollziehen können. Der Trailer zu „Seelen", war aber ganz gut und sie suchte online nach Bewertungen des Buches und der filmischen Umsetzung. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass der Film wohl einigermaßen in Ordnung sein würde. Er lief einmal um zwanzig Uhr fünfzehn und einmal um zweiundzwanzig Uhr. Bei einhundertfünfundzwanzig Minuten Laufzeit plus Werbung würde wohl nur die frühere Zeit in Frage kommen, wenn Rowan um halb eins zu Hause sein musste wie sonst immer. Seufzend bestellte sie Karten für die frühere Vorstellung vor. Während der Drucker ratterte, lehnte sie sich zurück und schaute aus dem Fenster. Was würde passieren, wenn Mr. Cabrel den Ausflug verbot – zutrauen würde sie es ihm allemal – und wenn er ihn vielleicht nicht mehr weggehen ließ, sondern ihn wirklich einfach irgendwo einsperrte für den Abend? Gedankenverloren zupfte sie an ihrem Pulli herum. Und wie sollten sie zeigen, dass er sich im Grunde nicht von anderen Menschen unterschied? Sie zog an einem losen Faden, der daraufhin etwas weiter aus dem Pulli herauskam. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. Was hatte Rowan in Mr. Cabrels Augen nicht, was ein Mensch hatte? Ihr Blick fiel auf den Ausdruck aus der Schulakte. Geboren in Gina's Hollow. Natürlich. Eine Herkunft, eine Familie. Irgendwo musste das Kind ja hergekommen sein, das Cabrel erworben hatte. Es musste irgendwo eine Familie geben! Sie konnte nicht glauben, dass sie nicht früher daran gedacht hatte.

Gina's Hollow war ein winziger Ort unweit von Bristol. Ort war allerdings wohl eine sehr gnädige Beschreibung. Offenbar hatte es kaum 2000 Einwohner und wirtschaftlich hätte die Situation auch besser sein können. Wenn sie nur einen Nachnamen gehabt hätte! In einem so kleinen Dorf kannte man sich sicher gut genug untereinander, um vielleicht sogar zu wissen, ob eine Familie vor 19 Jahren ein Kind bekommen hatte und es zur Adoption freigegeben hatte. Vorausgesetzt er war nicht auch noch entführt worden. In dem Fall war es vielleicht noch einfacher. Ob die Familien, denen man die Kinder nahm, etwas von dem hohen Preis bekamen, den die Käufer zahlten, oder waren sie einfach in dem Glauben, ihr Kind in gute Hände zur Adoption abzugeben? Konnte es Menschen geben, die ihr Kind willentlich verkauften? Clara rieb sich über die Stirn. Gina's Hollow war bestimmt zwei Autostunden entfernt von Chestersville und mit der schlechten Bahnverbindung der Stadt würde es sicher ein Problem für sie werden, dorthin zu gelangen. Außerdem wusste sie nicht, wie sie das ihrem Vater erklären wollte. Stöhnend schloss sie die Kartenansicht und schaute wieder auf den Ausdruck. Wenn sie doch nur einen Blick auf die Kaufpapiere und das, was nicht sonst noch alles damit zusammenhing, hätte werfen können. Vermutlich waren sie irgendwo in einem Hochsicherheitstresor oder in einem Bankschließfach versteckt. Sie beschloss, Rowan bei Gelegenheit dringend zu fragen, wie man an die Kinder für dieses Heim kam, auch wenn er sicher nicht gerne davon sprach. Über die Erziehungsmethoden dort dachte sie lieber erst gar nicht nach. Wo es wohl lag? Vermutlich nicht weit von Chestersville, wenn es hier gleich mehrere Familien gab, die einen solch abartigen Kauf getätigt hatten und das direkt unter den Nasen sämtlicher Behörden. Eigentlich war Chestersville nämlich als unheimlich sicher bekannt, was der Hauptgrund war, dass sie hier hergezogen waren. Die Stadt blieb zumeist unter sich. Es gab tatsächlich sogar eine Stadtmauer vor dem letzten Quarter. Alles funktionierte wie in einem kleinen Staat oder in einer Stadt mit mittelalterlichen Verhältnissen. Es gab ein eigenes Versorgungssystem, eine gut funktionierende Infrastruktur und eigentlich alles an Behörden und Institutionen, was man sich so vorstellen konnte, innerhalb der Stadt. Die Busse fuhren meist sehr pünktlich und auf den Sternstraßen war wenig Verkehr, weil man das Meiste gut zu Fuß erreichen konnte, zumindest in der oberen Hälfte der Stadt. Seit sie hierhergezogen war, hatte sie die Stadt noch nicht wieder verlassen. Es war einfach nicht nötig, und es war gar nicht so einfach. Tatsächlich war es mehr als unüblich, nur für einen Besuch in die Stadt zukommen und da man die unteren Quarter durchfahren musste, um zu einem der fünf Ausgänge zu gelangen war es auch keine besonders angenehme Angelegenheit. Das war auch der Grund, dass das Sicherheitsaufgebot in der unteren Hälfte der Stadt gerade an den Sternstraßen so groß war. Clara hielt nicht viel von dieser Einteilung aber für den Moment brachte es ihnen Sicherheit, weil niemand die Stadt unbemerkt betreten oder verlassen konnte. Umso seltsamer war es, dass es gelungen war, Sklaven in die Stadt hineinzubringen. Wenn dieses Kinderheim außerhalb der Stadt lag, hatte er die Stadt vermutlich nicht mehr verlassen, seit er von dort weggebracht worden war. Was für einige ein schützendes Bollwerk gegen die Außenwelt war, musst für ihm wie ein riesiger Käfig sein.

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