Marcus schnürte seine Schuhe. Er hatte sich lange nicht solche Mühe mit einem besonders gepflegten Äußeren gegeben. Natürlich war er stets gut gekleidet und hatte seine Hände und Haare gepflegt und ordentlich, aber heute war es ihm, als würde es besonders darauf ankommen, seriös und kompetent zu wirken. Überhaupt fühlte er sich vor Richard Jakes häufig wie ein junger Lehrling, der noch nichts über das Handwerk wusste, und auf den der Meister hinabsah. Das war schon seit vielen Jahren nicht mehr so, dennoch hatte er großen Respekt vor dem Arzt und er hatte nicht vor, ihm irgendeine Angriffsfläche für seine meist spitze Kritik zu geben. Überhaupt war Marcus heute Morgen in einer seltsamen Stimmung. Nach einer ganzen Kanne Kaffee war er außerdem ein wenig zitterig – ob des wenigen Schlafes oder des Kaffees wegen war dabei allerdings nicht klar. Etwas hatte sich in ihm in dieser Nacht verändert oder war viel mehr hinter dem Wall hervorgetreten, hinter dem er es über Jahre zurückgehalten hatte. Er konnte es nicht erklären, aber er merkte, dass auch sein Sklave das bemerkt hatte. Der stand etwas unsicher ein Stück hinter ihm und hielt ihm die Jacke hin, selbst das schwarze Shirt über die Schulter geworfen. Seufzend schob Marcus die Arme hinein und ließ sich in den Mantel helfen. Heute Nacht waren die Temperaturen erstmals unter fünf Grad Celsius gefallen und der Morgen war kalt, auch wenn es so früh schon gar nicht mehr war. Er hatte die letzten Stunden, seit das Mädchen gegangen war, hauptsächlich damit verbracht, einige Entscheidungen zu treffen, und er scheute sich ein wenig, sie in die Tat umzusetzen. Keinem der beiden Teenager hatte er von seinem Beschluss erzählt und er hoffte, dass sich die Angelegenheit so klären ließ, wie sie es durchgespielt hatten. Dafür musste ihnen der Zufall allerdings in geplanter Weise in die Karten spielen und das war nicht besonders wahrscheinlich. Er nahm seinen Autoschlüssel und steckte ihn in die Tasche. Dann fiel sein Blick zu Rowan und er nickte. Der Sklave deutete eine Verneigung an und wie schon seit frühster Kindheit konnte Marcus nicht nachvollziehen, wie der Junge es schaffte, selbst in Unterwürfigkeit einen gewissen Stolz und Selbstsicherheit zu legen. Über die Jahre hatte er angefangen, das zu ignorieren, doch heute fiel es ihm besonders auf.
Ohne ein weiteres Wort wandte Marcus sich ab und schritt zur Haustür. Er konnte nicht leugnen, dass ihn eine gewisse Nervosität überkam. Mit hoch erhobenem Kopf verließ er das Haus, ohne noch etwas zu Rowan zu sagen. Sie wussten beide, was sie zu tun hatten, und einander viel Erfolg zu wünschen, war nichts, was einer von ihnen ernsthaft über die Lippen gebracht hätte, auch wenn ihr Verhältnis zueinander in der Nacht fast freundschaftlich gewesen war. Sobald diese Angelegenheit geklärt war, würde sich entscheiden müssen, wie Marcus in Zukunft mit seinem Sklaven verfahren wollte. Es widerstrebte ihm, ihn freizulassen, zumal das auch finanziell einen großen Verlust bedeutete, aber nach der vergangenen Nacht konnte er auch nicht einfach weitermachen wie bisher. Seufzend ließ er sich hinter das Steuer seines Wagens sinken. Die chromfarbene Motorhaube glänzte in der Wintersonne und mit einem gesunden Stottern kam der Motor ins Laufen. Marcus sah noch einmal zum Haus zurück, während er rückwärts aus der Einfahrt fuhr und sah, wie Rowan zwischen den beiden Zäunen auftauchte, inzwischen in das übliche Shirt und die Kapuze gehüllt, und leicht fröstelte. Kein Wunder, denn das Thermometer im Auto zeigte eine Außentemperatur von sechs Grad. Die Heizung lief bereits und trotzdem war es natürlich nicht augenblicklich warm. Während er über eine Seitenstraße zur fünften Sternstraße fuhr, kreisten seine Gedanken erneut zu dem bevorstehenden Gespräch und wieder spürte er Nervosität unter der Haut kribbeln. Nein, das würde kein Zuckerschlecken werden.
Die Klinik ragte grau in den ebenso grauen Oktoberhimmel. Der letzte Oktobertag hatte einige Anlieger dazu bewegt, geschnitzte Kürbisse vor ihre Haustüren zu stellen und selbst im kleinen Rundbeet vor dem Haupteingang der Klinik lag ein großer Kürbis, wenn auch ungeschnizt. Halloween. Was für eine Ironie. Er persönlich hatte dem Feiertag nie wirklich etwas abgewinnen können, doch die vereinzelten Kinder, die der amerikanischen Tradition auch hier folgten und an seine Tür schellten, bekamen von Rowan jedes Jahr großzügig Süßigkeiten ausgehändigt. Hunderte Male hatte er die Klinik bereits betreten, schließlich war sie auch ein großer Abnehmer seiner Firma. Außerdem hatte er bereits mehrfach mit großzügigen Spendengeldern die radiologische Abteilung und die Intensivstation unterstützt. Dr. Jakes hatte seine eigene Praxis in der Klinik. Sie war unterteilt in mehrere Abteilungen und Richard leitete die Chirurgie und die Allgemeinmedizin. Damit unterstand ihm der größte und meistgenutzte Teil der Einrichtung. Die Spezialisten für Radiologie, Kardiologie, Psychiatrie und Neurologie sowie spezieller weiterer Richtungen unterstanden jeweils einem eigenen Fachmann und einem Team von weiteren Ärzten, doch die waren nur in ihren Abteilungen tätig. Dr. Jakes betrieb zusätzlich noch eine Hausarztpraxis, die ebenfalls im Inneren der Klinik lag. Sie war direkt unter dem Dach. Chestersville hatte hier sein medizinisches Zentrum. Allein die Zahnärzte hatten ihr eigenes Gebäude ein Quarter weiter unten an der vierten Sternenstraße. Dass die Klinik im dritten Quarter lag, führte dazu, dass viele Bürger aus dem untersten Quartern den Weg bis hier hinauf gar nicht erst antraten. Sie wurden also entweder mit dem Krankenwagen eingeliefert oder standen ihre Krankheiten selbst durch. Das war einer der Gründe, weshalb die Viertel immer mehr im Elend versanken. Im Foyer der Klinik lehnte ein junger Mann mit braunen Haaren an der Wand und sah sich um und ein älterer Herr mit nur noch einem Bein saß in einem Rollstuhl und las eine Zeitung. Offensichtlich wartete er auf jemanden, denn er sah suchend auf, als Marcus Schritte durch die Halle tönten. Die Dame hinter dem Empfangsschalter nickte ihm nur einmal zu und wandte sich dann wieder ihrem Computer zu, während Marcus auf den Aufzug zuhielt. Er würde seine Energie definitiv nicht aufs Treppensteigen vergeuden. Schnaufend vor Anstrengung oben anzukommen war ihm darüber hinaus einfach zu würdelos. Seine Aufregung wuchs, während der Aufzug nach oben glitt und im fünften Stock zum Stehen kam. Mit einem Rauschen glitten die Aufzugtüren auseinander und gaben den Blick auf einen wie geleckt sauberen Flur frei.
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Allegiance- Possenspiel
Tajemnica / ThrillerTeufel gibt es überall. Sie tragen keine Hörner und haben keine Ziegenhufe. Alle Teufel sind Menschen! Frei wer sich selber befreit, denkt sich Clara und zieht mit ihrem Vater in eine neue Stadt, für ein neues Leben. Doch schnell muss sie feststell...