Alles war zurückgekehrt. All das, was sie über die Monate so krampfhaft versucht hatte, zu vergessen, war wieder so lebhaft da, als sei es gerade erst passiert. Sie war nicht mehr Clara, die auf dem Sofa saß und erzählte, sie war wieder Luna. Luna, die die furchtbarste Nacht ihres Lebens erneut durchlebte. Ihre Stimme war leise und zögernd, doch die Worte kamen, als hätten sie schon lange dort darauf gewartet, endlich erzählt zu werden.
„Eigentlich war alles in Ordnung", begann sie. „Meine Mutter war schon seit Jahren tot und mein Vater hatte seine Behinderung weitestgehend verarbeitet und wir waren in ein normales Leben zurückgekehrt. In der Schule – aus dem Jahrgang über mir – habe ich einen Jungen kennengelernt und nach einiger Zeit waren wir ein Paar. Jordan war ... anders als alle anderen Menschen um mich herum. Anders als meine anderen Freunde und ganz anders als mein Vater. Es war, als würde er mich wirklich verstehen, als würde er jedem meiner Worte glauben, und er war immer für mich da. Ich hätte geschworen, dass wir ewig zusammen bleiben, weil wir einfach wie für einander geschaffen waren. Egal, wie klein und unbedeutend meine Sorgen waren, er hat sie immer ernst genommen und sich darum gekümmert und mir auch seinerseits alles anvertraut, dachte ich zumindest. Eigentlich stand nie etwas zwischen uns. Natürlich haben wir uns auch mal gestritten und er war furchtbar schnell beleidigt und eifersüchtig, aber er hat mich nie darunter leiden lassen oder irgendetwas unnötig nachgetragen und ich war so verliebt..." Tränen waren ihr in die Augen gestiegen, aber sie merkte es gar nicht, während Rowan sie undurchdringlich von der Seite ansah. Das Unbehagen in seinem Blick bemerkte sie gar nicht vor lauter Versunkenheit.
„Alles war gut bis zu dieser einen blöden Nacht. Es war am fünfundzwanzigsten April dieses Jahres, ein Donnerstag. Am Freitag war Schulfrei und Jordan wollte mir unbedingt etwas zeigen und deshalb wollte ich bei ihm übernachten. Er wollte unbedingt, dass ich mit in den Wald komme und ich konnte ihm sowieso nie etwas ausschlagen. Außerdem hätte ich ihm mit meinem Leben vertraut. Wir waren ein perfektes Paar..." Für einen Moment starrte sie geradeaus an die Wand und sie sah nicht, wie Rowans Blick zum Fenster zuckte. „... Und was erwartet man schon? Also klar, der Wald war schon ziemlich gruselig und ist in jeder Geschichte unheilvoll, aber ich hatte wirklich keinen Grund anzunehmen, er würde irgendeine Gefahr beherbergen. Ich dachte, er hätte vielleicht einen Ort gefunden, wo es besonders romantisch ist oder was weiß ich. Jedenfalls wäre ich nie darauf gekommen, dass er jemanden treffen wollte. Es war total verwirrend und ich kannte mich sowieso nicht aus im Wald oder generell irgendwo in dem Nationalpark und so hab ich einfach Jordan die Führung überlassen, auch wenn ich es ziemlich unheimlich fand. Aber Wälder bei Nacht sind nun einmal gruselig, gerade bei Vollmond und ich hab gedacht... Ich hab einfach darauf vertraut, dass Jordan weiß, was er tut." Sie seufzte und dachte zurück an die mondhelle Nacht, die so schön hätte sein können. „Jedenfalls sind wir irgendwann auf einer Lichtung angekommen und eine Reihe von Leuten hatte sich da versammelt und ein großes Feuer gemacht und es war alles in allem total gruselig, mit Tierknochen, die an den Bäumen aufgehängt waren, und seltsamen Strohpuppen – so richtig wie in einem Horrorfilm eben. Nicht, dass ich seitdem einen Horrorfilm geguckt hätte... Nicht, dass du je einen Horrorfilm geguckt hättest, aber... wir haben sie immer geschaut, zusammen." Sie hatte trotz der Erinnerung nicht vergessen, dass Rowan am Samstag seinen ersten Film gesehen hatte, und dass er wahrscheinlich keine Vorstellung hatte, wie ein Horrorfilm einen unter Spannung versetzte, dass man danach nicht mehr alleine auf den Flur gehen konnte und bei jedem noch so kleinen Rascheln das kleine Mädchen im weißen Kleid vor sich auftauchen sah. Sie erschauderte.
„Jordan hat mir einen von den Leuten in ihren Kutten als Luce vorgestellt. Ich hab später herausgefunden, dass er eigentlich Martin heißt, und dass Luce nur eine miserable Anlehnung an Lucifer ist." Sie dachte an die tätowierte Haut und die wolfsähnlichen Augen zurück, die ihr durch den ganzen Gerichtssaal gefolgt waren. „Sie sahen nicht nur aus, als würden sie irgendeinem komischen Kult angehören, sie verhielten sich auch so. Schweigend um ein Feuer sitzend und fast alle tätowiert unter ihren Kapuzen. Jordan hat es trotzdem geschafft, mich zu beruhigen, aber nicht lange. Er hat irgendwas von Horrorgeschichten erzählt und ich wollte ihm wirklich glauben, aber ich wusste... ich wusste die ganze Zeit, dass das alles viel echter war, als Jordan mir vormachte, und dann hat dieser Luce angefangen, aus so einem alten Buch vorzulesen. So etwas Krankes habe ich noch nie gehört. ‚Doch verdunkelt sich das Licht der Nacht in Schatten, wird der starke Herr der Welt für die Seinen sorgen', und noch mehr in die Richtung. Und dann hat er irgendwas gefaselt von Selbstbeherrschung und Überwindung und der perfekten Nacht wegen irgend so einer partiellen Mondfinsternis und ich wollte ehrlich nur noch gehen, aber Jordan wollte bleiben und alleine gehen konnte ich schlecht. Ich hätte den Weg aus dem Wald schon kaum gefunden, geschweige denn durch den Park zurück nach Hause, und Jordan schien das alles für total spannend und lustig zu halten. Das Ganze wurde immer wahnsinniger und dann kam irgendwann das Thema Opferung und spätestens da hatte ich riesige Panik. Das war alles so... surreal... wie in einem besonders dummen Albtraum und diese anderen Jugendlichen waren alle vollkommen hingerissen und dann haben sie wirklich, vollen Ernstes angefangen, einen Kreisel zu drehen und einen von sich auszuwählen." Sie schwieg einen Moment lang und zog die Beine an, die Augen geweitet, und ihre Gesichtsfarbe war sicherlich bleicher als der Sofabezug. „Jordan hat gesagt, das sei doch nur Spaß und ich solle mich einfach darauf einlassen, auch als der, auf den die Wahl gefallen war, anfing zu betteln und wegwollte und sie ihn festgehalten haben und..." Sie musste Luft holen, weil sie so schnell sprach, dass ihre Stimme sich überschlug. „und dann hat dieser Luce ein Messer genommen und als ich mir endlich nicht mehr ausreden konnte, dass sie das ernst meinten, war es schon zu spät." Sie biss sich fest auf die bebende Unterlippe. „Er hat ihm einfach so die Kehle durchgeschnitten", flüsterte sie und die Tränen standen ihr in den Augen. „Ohne zu zögern und dann haben sie irgendwas gemurmelt und ich... ich konnte da nicht bleiben, nicht bei diesen Menschen, die gerade einfach jemanden vor meinen Augen getötet hatten, um den Teufel um Schutz oder was auch immer zu bitten." Ihr wurde bei der Erinnerung wieder schlecht, wie schon damals, und ihr Körper begann, unkontrolliert zu zittern, während sie alles wieder vor sich sah und ihr die Tränen über die Wangen liefen und Rowan sie reglos anstarrte und an ihren Lippen hing. „Ich war so geschockt... Ich hab gar nicht gemerkt, wie ich angefangen habe zu schreien und dann haben sie sich alle zu mir gedreht und ich bin einfach weggelaufen. Ich habe gehört wie Jordan mir nachgerufen hat und ich weiß nicht, ob er mir vielleicht sogar gefolgt ist, aber ich musste einfach da weg und ehrlich gesagt, weiß ich bis heute nicht, wie ich es aus diesem Wald geschafft habe. Ich bin bestimmt hundert Mal über irgendwas gefallen und ich hatte nie – wirklich nie – in meinem Leben so grauenvolle Angst. Als ich völlig verdreckt und verschwitzt und verängstigt zu Hause angekommen bin, hat mein Vater mich ohne zu zögern zur Polizei gebracht. Ich wollte nicht aussagen. Überhaupt nicht. Ich war mir absolut sicher, dass sie auch einen zweiten Menschen töten würden und ich war absolut fertig, aber ich hatte ja schon gesagt, dass ich einen Mord beobachtet hatte und sie haben versprochen, dass ich nichts falsch machen konnte." Clara musste sich einen Moment beruhigen, weil ihre Stimme vom Schluchzen geschüttelt versagte. Rowan regte sich noch immer nicht. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, als sie kurz zu ihm schielte, bevor sie das Gesicht in den Knien vergrub.
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Allegiance- Possenspiel
Misterio / SuspensoTeufel gibt es überall. Sie tragen keine Hörner und haben keine Ziegenhufe. Alle Teufel sind Menschen! Frei wer sich selber befreit, denkt sich Clara und zieht mit ihrem Vater in eine neue Stadt, für ein neues Leben. Doch schnell muss sie feststell...