Clara konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so schlecht geschlafen hatte. Die ganze Nacht hatte sie in einer Art Halbschlaf verbracht. Sie hatte geschlafen, ohne dass ihr Bewusstsein aufgehört hatte, zu arbeiten. So war sie nicht wach genug gewesen, um sich konkret über etwas Gedanken zu machen oder sich gar zu beruhigen, um richtig einzuschlafen, hatte aber auch nicht genug geschlafen, um sich in irgendeiner Form zu erholen. So war sie fast froh, als ihr Wecker sie aus dem Bett klingelte. Sie fühlte sich, als hätte sie gar nicht geschlafen, obwohl sie wusste, dass sie dann vermutlich noch mehr Probleme und größte Schwierigkeiten gehabt hätte, sich wach zu halten. Am liebsten wäre sie einfach hiergeblieben und hätte sich unter ihrer Decke verkrümelt. Immer wieder sah sie Jordans Gesicht vor sich, das im Schein ihrer Taschenlampe unnatürlich blass gewirkt hatte. Irgendetwas an ihm war anders gewesen als zuvor. Vielleicht lag es allerdings auch nur daran, dass sie ihn nicht wiedergesehen hatte, seit sie neben ihm einen Mord beobachtet hatte, um das später in seiner Anwesenheit vor Gericht vorzutragen und vorher nur die Wärme bei ihm gekannt hatte. Nach all den Monaten war nur die Erinnerung daran noch da, was sie einst für ihn empfunden hatte, aber auch das verschwamm vor all dem, was nun zwischen ihnen lag. Wie konnte er es wagen, hier aufzutauchen? Wie konnte er ihr das neue Leben kaputt machen, das sie so mühsam aufgebaut und zu akzeptieren gelernt hatte? Luna hatte es nicht mehr gegeben. Clara hatte sie zurück gelassen zusammen mit allem, was zu Lunas Leben gehört hatte und war Clara geworden und Clara hatte keine Gefühle für Jordan.
Seufzend hob sie die Beine aus dem Bett. Wie konnte er sie gefunden haben? Er hatte immerhin ein Zeugenschutzprogramm zwischen sich und ihr gehabt. Realistisch konnte es nirgendwo jemanden geben, der ihm sagen konnte, wo sie zu finden war. Niemand hier kannte ihren richtigen Namen außer Sophie, nicht einmal der Leiter der Polizei von Chestersville. Der wusste zwar, dass Clara Hackley ein Produkt des Zeugenschutzes war, aber er wusste nicht, dass sie mal Luna Stedford gewesen war. Was, wenn er wieder draußen war und vor dem Haus auf sie wartete? Was, wenn er so lange dort wartete, bis er sie irgendwann in die Finger bekam? Sie konnte sich schließlich nicht ewig hier verstecken, schon gar nicht, ohne jemandem davon zu erzählen, und noch scheute sie sich, ihrem Vater zu sagen, dass die Vergangenheit sie eingeholt hatte. Wie sollte sie das auch, wenn sie es selbst noch nicht wahrhaben konnte? Ohne jeden Zweifel würde er sofort zum Telefon greifen und es würde nicht lange dauern und alles würde von vorne beginnen. Was passierte überhaupt, wenn das Zeugenschutzprogramm nicht funktionierte? Bekam man dann ein zweites Mal eine neue Identität? Dann musste sie alles erneut zurücklassen, vor allem Rowan, dem sie Hilfe versprochen hatte. Sie seufzte, während sie den geöffneten Kleiderschrank anstarrte, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu richten, was sie anziehen wollte. Und wenn sie sich direkt an Sophie richtete, würde etwas Ähnliches passieren, aber noch mehr Menschen, denen sie vertrauen konnte, gab es hier nicht außer Rowan und der konnte ihr leider nicht helfen, weil er das Haus nicht ungestraft verlassen durfte und nirgendwo unbemerkt hingehen konnte. Sie ließ den Kopf gegen den Spiegel der Mitteltür sinken und ließ das kalte Glas ihren Kopf kühlen. Sie musste da durch. Irgendwie.
Es ging nicht. Sie schaffte es kaum, die Treppe hinabzugehen, weil ihr mit einem Blick auf die Tür so schlecht wurde, dass sie fast in den Flur gekotzt hätte. Sie wollte nicht. Mit steinerner Miene polterte sie die Stufen hinab und ließ sich in der Küche auf den Stuhl sinken. Der Aufzug war unten, was bedeutete, dass ihr Vater es auch war. Verzweifelt versuchte sie, ihre immer mehr steigende Panik zu unterdrücken und holte tief Luft. Er sah ihr meistens sofort an, wenn etwas nicht stimmte. Sie war ohnehin keine besonders gute Lügnerin, was die Sache mit dem Zeugenschutz zu Anfang zusätzlich erschwert hatte, aber ihr Vater sah ihr sogar Gefühle an, von denen sie selbst nicht wusste, dass sie sie hatte. Als er vom Vorratsraum hereingerollt kam, mit einer Tüte Haferflocken im Schoß, lächelte er sie an: „Guten Morgen, mein Engelchen. Hast du gut geschlafen?" Engelchen war eines der wenigen Dinge, die mit ihnen gekommen waren, bei dem Umzug. Es hatte sich so seltsam angefühlt, von dem eigenen Vater plötzlich mit einem Namen angesprochen zu werden, den man nicht kannte, und so waren sie bei dem Kosenamen geblieben, den er verwendet hatte, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Schon, als ihre Mutter noch gelebt hatte und er noch hatte laufen können, war sie sein Engelchen gewesen, und er hatte nicht zugelassen, dass sich das änderte.
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Allegiance- Possenspiel
Mystery / ThrillerTeufel gibt es überall. Sie tragen keine Hörner und haben keine Ziegenhufe. Alle Teufel sind Menschen! Frei wer sich selber befreit, denkt sich Clara und zieht mit ihrem Vater in eine neue Stadt, für ein neues Leben. Doch schnell muss sie feststell...