19. Kapitel- letzter Ausweg

61 14 13
                                    

Das Abendessen hatte sie abgelehnt und den Tee hatte sie nicht angerührt. Nicht einmal das Erbrochene hatte sie aufgewischt. Schweigend hatte sie sich vom Boden auf ihr Bett begeben und starrte nun schon seit Stunden die Decke an. Es ging auf Mitternacht zu. Sophie war trotz großer Sorge ins Bett gegangen und hatte seither keinen Ton mehr von sich gegeben. Claras Inneres war ein Schlachtfeld. Jede erdenkliche Vorgehensweise hatte sie durchgespielt und jede hatte sie verworfen. Das Einzige, worauf sie immer wieder zurückkam, was irgendwie praktikabel war, war Rowan um Hilfe zu bitten. Alleine der Gedanke, mit jemandem reden zu können, kam ihr hilfreich und beruhigend vor, doch trotzdem war sie liegengeblieben und starrte starr gegen die Decke. Was, wenn sie das Spiel einfach mitspielte? Ekel überkam sie. Niemals. Sie verabscheute die Sklaverei ohnehin, aber selbst ein Teil davon zu werden war ihr nicht möglich. Da würde sie sich eher vom Dach des Krankenhauses stürzen. Seufzend betrachtete sie das Muster der Raufasertapete und versuchte abermals, die Wut, die Angst, die Verzweiflung und die Fassungslosigkeit zu ordnen und hintereinander zu bringen, anstatt in einem wilden Gefühlswirrwarr zu schweben. Die einzige Hoffnung schien nach wie vor Rowan zu sein. Sie glaubte nämlich nicht ernsthaft daran, dass die Polizei ihren Vater finden würde, schon gar nicht vor Mittag des nächsten Tages – nein, dieses Tages. Sie hörte das leise Piepen der Uhr, das Mitternacht verkündete. Es half nichts. Wenn es Hoffnung gab, musste sie sie verfolgen, auch wenn das noch mehr Gefahr brachte. Langsam war ihr alles egal. Sie würde nichts unversucht lassen.

Lautlos stand sie auf, ging hinaus in den Flur und die Treppe hinab. Sie übersprang die quietschende Stufe möglichst lautlos, falls Sophie nicht schlafen konnte, die im Gästezimmer auf dem Schlafsofa liegen musste, und griff nach ihrer Jacke. Auf ihrem Pullover war ein kleiner Fleck vom Kotzen, aber es war ihr egal. Es würde ohnehin nicht zu sehen sein und ihr Aussehen war gerade ihre geringste Sorge. Schnell schlüpfte sie in ihre Schuhe und betrachtete ihr Handy. Ob sie es hierlassen sollte? Nein, sie wusste nicht, was vielleicht passieren würde, also nahm sie einfach Akku und SIM-Karte aus dem Gerät und steckte sie einzeln in die Tasche. Möglichst leise schob sie dann die Haustür auf und trat hinaus in die kalte Nachtluft. Der Wind hatte sich gelegt und einen wolkenverhangenen Himmel hinterlassen, jedenfalls war kein Stern am Himmel zu sehen. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und schob die Hände in die Taschen, während sie schnellen Schrittes den inzwischen vertrauten Weg den Berg hinauf antrat. Verbissen schaute sie auf den Boden vor sich, achtete nicht auf ihre Umgebung und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Fast wartete sie darauf, von Jordan aufgehalten zu werden, aber er schien auch Mal Schlaf zu brauchen oder aber sein Ziel erreicht zu haben und aufgegeben zu haben. Während die Häuser um sie herum prächtiger und die Straßen sauberer wurden, kämpfte sie erneut gegen die Tränen. Dieses Mal vor Verzweiflung. Was, wenn er schon gar nicht mehr lebte? Immerhin wusste Jakes schon seit Stunden davon und sicherlich hatte er es längst weitergegeben, wenn er es nicht erst von Mr. Cabrel wusste. Was, wenn der seine Wut schon nicht hatte kontrollieren können und den Knopf gedrückt hatte, oder was auch immer es brauchte, um das Gift in Gang zu setzen? Oder vielleicht hatte er ihn auch vor Wut zu Tode geprügelt. Vielleicht sollte sie nicht fragen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass er tot war, sondern vielmehr ob überhaupt eine Möglichkeit bestand, dass er noch lebte. Von dem Gedanken wurde ihr schlecht.

Das Anwesen lag still und dunkel in der Nacht. Wie immer nahm sie den Weg in den Garten, jedoch war dieses Mal kein Licht im Salon. Das Haus schlief. Wenn er noch lebte, war er also in der Abstellkammer, die er sein Zimmer nannte, und die war jenseits der Hecke auf der Vorderseite des Hauses. Ohne zu zögern schob sie sich durch die Heckenpflanzen hindurch, denn die beiden Gärten waren nicht durch einen Zaun getrennt. Die Äste verfingen sich in ihrer Kleidung und ihren Haaren und sie ratschte sich Hände und Gesicht auf, während sie sich einen Weg durch das dicke Gestrüpp zu bahnen versuchte. Nah an der Hauswand vorbeigedrückt schaffte sie es schließlich, die Kleider voller Dreck und Blätter. Es war ihr egal, ebenso wie der scharfe Schmerz in ihrer Wange und an anderen Stellen, wo sich die kleinen Äste in ihre Haut gebohrt hatten. Der Eingang des Hauses tauchte nun vor ihr auf und dort oben, weit außerhalb ihrer Reichweite, lag der schmale Fensterschlitz, durch den sie den Polizeieinsatz beobachtet hatte. Kurz überlegte sie, einfach zu klingeln, weil die Gleichgültigkeit sich in ihr ausgebreitet hatte und nun auch alles andere einzunehmen drohte, statt auf ihrem Aussehen zu verharren. Die Angst um ihren Vater hatte alles andere gelähmt, und weil sie einfach nicht mehr konnte, zu erschöpft war vom Fürchten, war sie zu gleichgültig geworden. Trotzdem wollte sie mit Rowan reden und nicht jetzt schon, quasi als Vorgeschmack, von Mr. Cabrel grün und blau geprügelt werden. Sie versuchte, über die Stufen vor dem Haus das Fenster zu erreichen, aber sie war einfach zu klein. Nach rumliegenden Ästen brauchte sie auch gar nicht erst zu suchen. Der Garten war so penibel von Rowan gepflegt, dass hier ganz sicher keine langen Äste rumlagen. Kurzentschlossen griff sie also zu den Steinen, die den Weg säumten. Größer als ein Kiesel, aber vielleicht noch gerade klein genug, um die Scheibe nicht zu durchschlagen. Ohne zu zögern warf sie gegen das Fenster. Sie traf nicht. Der Stein flog gegen die Hauswand und fiel mit einem lauten Poltern wieder zu Boden. Seufzend hob sie ihn auf und warf ein zweites Mal. Dieses Mal traf sie, aber dass es nur zwei Sekunden dauerte bis die Haustür aufging, zeigte ihr, dass schon ihr erster Wurf bemerkt worden war. Rowan stand in der Tür und Erleichterung machte sich in ihr breit. Er lebte noch und offensichtlich war er in einigermaßen guter Verfassung. Fassungslos starrte er sie an, bevor er sie am Arm griff, ins Haus zog und direkt in sein Zimmer buxierte, bevor er möglichst leise die Tür schloss. „Bist du wahnsinnig?", zischte er und schloss auch die Zimmertür. „Willst du mich umbringen?" Er nahm die Kerze von der Kiste und hielt sie hoch. Offenbar hatte er gerade die Briefe noch einmal gelesen, denn zwei geöffnete Briefumschläge lagen neben der Matte auf dem Boden. Dabei fiel ihr Jenna wieder ein und es schien eine Ewigkeit her, dass sie mit ihr geschrieben hatte.

Allegiance- Possenspiel Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt