27. Aufgabe

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»Ach, Manu, kurz noch: Wegen deiner Einbringung hier.«

Manu sah auf und nickte als Zeichen, dass er zuhören würde, während er sein Mathebuch, den Block und seine Stifte aufsammelte.

»Wir haben uns geeinigt, nicht deine Hefte zu bewerten. Die Notengebung ist nicht fair, wenn du davon vorher nicht wusstest, das ist auf jeden Fall ein berechtigter Einwand. Ich hätte eine andere Aufgabe für dich, die allerdings ein bisschen zeitintensiver sein wird: Es geht darum, die Herleitung zu der Formel zu erarbeiten, die wir nächste Stunde durchnehmen. Das ist nicht einfach, aber auf jeden Fall machbar, wenn man ein bisschen knobelt. Du würdest dazu mit Patrick zusammenarbeiten, er hat auch noch eine weitere Note gebeten, da er zwischen zwei Noten steht. Abgabe wäre dann Freitag in zwei Wochen, ihr habt also ab nächster Stunde eineinhalb Wochen Zeit. Wäre das für dich eine Alternative?«

Für einen Moment schaffte Manu es nicht, zu reagieren. Die Aufgabe an sich klang ganz spannend – aber ausgerechnet mit Patrick zusammen? Alleine mit ihm Zeit verbringen? Das klang nicht nach einer sonderlich intelligenten Idee. Und doch hatte er eigentlich keine andere Wahl, als zuzusagen. Er konnte es sich nicht leisten, seine Hefte stattdessen benoten zu lassen. Also nickte er langsam und hatte dabei ein bisschen das Gefühl, gerade einen Fehler zu machen.

*

»Kommst du?«

Patrick schien genervt und Manu beeilte sich, sein Oberteil überzuziehen, seinem Klassenkameraden den Rücken zugekehrt. Dann erst drehte er sich wieder um, stopfte seine vom Basketballtraining verschwitzten Sportklamotten in die Tasche und nahm diese hoch, um Patrick aus der Umkleide zu folgen.

Sie würden sich heute gezwungenermaßen zusammensetzen müssen, um ihre Matheaufgabe zu erledigen – schließlich hatten sie es lange genug vor sich hergeschoben und mussten sie morgen schon abgeben. Also hatten sie sich geeinigt, sich nach dem Basketballtraining zu treffen. Allerdings bezweifelte Manu jetzt schon, dass er sich so würde konzentrieren können. Nicht, wenn Patrick weiterhin so genervt wie jetzt ja schon war. Um bei einem genervten Palle noch entspannt sein zu können, hatte er zu viele negative Erfahrungen mit ihm gemacht.

»Setz dich. Du kennst dich ja hier aus.«

Patrick lachte leise, während Manu bloß zögerlich seine Tasche neben sein ehemaliges Bett fallen ließ und sich schließlich seinen alten Schreibtischstuhl an Patricks Tisch heranzog, während er diesen von Büchern freiräumte.

»Also. Diese Formel. Und wir sollen ...«, er begann, in dem Buch zu blättern, »Von hier die Herleitung finden. Ich hab schon gegoogelt. Man findet dazu nichts. Hast du halbwegs etwas drauf in Mathe?«

Manu zögerte kurz, nickte dann aber.

»Gut. Du schreibst. Ich denke nach.«

Manu seufzte, griff aber dann wirklich nach dem Stift, den Patrick aus seinem Mäppchen geholt hatte und schrieb die erste, vorgegebene, Zeile ab.

Nach überraschend kurzer Zeit schafften sie es tatsächlich, sich so in die Aufgabe zu vertiefen, dass Manu vollkommen vergaß, dass er Patrick ja eigentlich gar nicht ausstehen konnte. Hatte er am Anfang wenigstens noch ein bisschen Angst gehabt – nicht so wie noch vor ein paar Wochen, aber doch ein bisschen – so war diese nun ganz verschwunden.

Irgendetwas schien dran zu sein, an der Nachricht, die Manu gelesen hatte und der Erklärung, die Dado und er dazu gefunden hatten. Zumindest machte auch Palle gerade nicht den Anschein, ihn unbedingt zu hassen. Im Gegenteil. Beide waren gut in Mathe, kamen gut voran und auch, wenn sie ab und zu kleine Rückschläge hatten und Teile neu rechnen mussten, machte es fast schon ein bisschen Spaß. An sich war es nicht viel anders, als schwierige Rätsel aus komplizierten Knobelheften zu lösen. Und dass sie beide gut in Mathe waren und daran Spaß finden konnten, gab ihnen irgendeine nicht greifbare Verbindung, eine Gemeinsamkeit – vielleicht das gemeinsame Rätseln und der gemeinsame Erfolg, wenn sie einen Schritt weiter kamen – die sie sich annähern ließ.

Als der Ältere irgendwann aufstand und kurzerhand aus seinem Schrank eine halbleere Flasche Vodka und ein Tetrapack Orangensaft zog, grinste Manu bloß. Gesund war es bestimmt nicht, dass sie, wie ihre anderen Klassenkameraden auch, inzwischen so regelmäßig tranken, aber so etwas langwieriges wie diese Aufgabe, die wirklich ein reines Knobeln war, war so nun mal schöner zu ertragen. Deswegen zögerte er auch nicht, anzunehmen, als Patrick den Alkohol in das Tetrapack umfüllte und es Manu anbot. Er nahm direkt aus der Packung einige Schlucke und Palle tat es ihm nach.

Dann ließ er sich erneut auf seinen Stuhl fallen und grinste Manu an, lehnte sich aber bloß zurück und schien keinerlei Anstalten zu machen, weiter zu rechnen. Stattdessen musterte er bloß seinen ehemaligen Zimmergenossen eine ganze Weile lang, bis er schließlich schmunzelnd den Blick wieder abwandte und dieses Mal tatsächlich selbst nach dem Stift griff, um Manus Rechnungen weiter zu verfolgen.

Manu sah ihm dabei zu und erwische sich irgendwann dabei, wie er mit den Gedanken immer weiter abdriftete. Beide nahmen immer wieder einen Schluck ihrer Mischung, während sie abwechselnd mal mehr, mal weniger konzentriert arbeiteten. Zwischenzeitlich entstand sogar so etwas wie ein Gespräch, als Manu einzelne Sätze auf den Rand des Papiers kritzelte und Patrick sogar tatsächlich darüber lachte. Über das, was Manu ihm schrieb und nicht über Manu. Irgendwie war das ein ungewohntes Gefühl für ihn.

Irgendwann bekam Manu Schluckauf und während er versuchte, den durch mehrere große Schlucke aus ihrer Mischung (trinken sollte schließlich helfen) zu stillen, lachte Patrick bloß darüber, wie lustig und süß er angeblich dabei klang. Manu versuchte, es zu übergehen (süß - Palle konnte auch nicht mehr ganz nüchtern sein) und weiter zu rechnen, aber Patrick beschwerte sich immer wieder drüber, dass er sich so unmöglich konzentrieren könne. Doch Manu hickste weiter.

»Manuel.« Palle lachte, versuchte aber, streng zu klingen. Manus Name klang so ungewohnt aus seinem Mund. »Man muss dich erschrecken. Oder halt mal die Luft an.«

Hilflos kniff der Kleinere demonstrativ die Lippen zusammen, versuchte, nicht mehr zu atmen, doch auch ohne Erfolg. Er schüttelte bloß den Kopf.

Patrick währenddessen schien eine weitere Zeile schreiben zu wollen, brach aber nach ein paar Buchstaben ab, als Manu erneut hickste und er daraufhin bloß lachend den Kopf schüttelte. Nachdenklich betrachtete er den Kleineren, der aufgestanden war und im Raum auf und ab ging, verzweifelt versuchend, seinen Schluckauf unter Kontrolle zu bringen.

Irgendwann stand auch Patrick auf und während Manu ihn kaum beachtete, blieb er aber stehen und beobachtete bloß den Anderen.

Und dann, auf ein Mal, aus dem Nichts, trat er zwei Schritte vor, direkt in Manus Weg und zwang ihm so zum Stehenbleiben. Überrascht sah Manu auf, wollte den Grund dafür sehen, doch so weit kam es nicht. Noch ehe er sich versehen konnte, hatte Patrick auf ein Mal seine Hände an den Seiten seines Gesichts und hielt ihn so, wenn auch nicht allzu hart, fest, während er seine Lippen ohne Vorwarnung auf Manus drückte.

Patrick bewegte seine Lippen gegen die des geschockten Jungen vor ihm, bestimmend, aber nicht brutal und ohne so wirklich zu wissen, was geschah, ließ Manu es zu.

Und, ob das nun unter »Luft anhalten« oder »Erschrecken« zählte: Manus Schluckauf war verschwunden.

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Was sich liebt ... ~ #KürbistumorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt