Kapitel 77

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Der nächste Tag war ein Albtraum. Einer, aus dem ich nicht erwachen konnte, einer, aus dem es kein Entkommen gab. Keine einzige Sekunde verstrich, in der ich nicht an Kaelans Erzählung, in der ich nicht an die Wahrheit dachte, die mir gestern Nacht vom Eiskönig offenbart worden war. Meine Mutter kam aus Rushworth, mein Vater war mein Todfeind.

Ich hatte versucht, mich Jeremia anzuvertrauen. Ihm zu erzählen, was ich nun wusste und was mein ganzes Leben auf den Kopf stellte. Ich hatte versucht, ihm begreiflich zu machen, was es mit mir machte, meine Zeit im Schloss gründlich zu überdenken, weil ich auf der Suche nach Zeichen des Erkennens war, die absolut ausblieben. Und je mehr ich mich an das Gesicht meines Vaters zu erinnern versuchte, desto weniger gelang es mir, seine Züge zu rekonstruieren oder mir seine Augenfarbe ins Gedächtnis zu rufen. Es fühlte sich an, als würde man nach etwas greifen, das sich direkt vor einem befand, doch wenn man es schon gefasst hatte, glitt es einem aus den Händen und verschwand, als wäre es nie dagewesen.

Doch ich war daran gescheitert, ihn aufzuklären. Jedes Mal, wenn ich den Titel des Mannes aussprechen wollte, der mein Vater war und mich nach meiner Geburt hatte umbringen lassen, brach ich in Tränen aus. Jeremia hielt mich stundenlang in seinen Armen, wiegte mich darin wie das zerbrechliche kleine Mädchen, das ich nun einmal tief in meinem Inneren war, und wartete darauf, dass mein Weinen verstummte und ich endlich in der Lage war, zu reden. Aber das geschah nicht. Denn vorher war ich eingeschlafen, an Jeremias Brust. Und als ich heute Morgen aufgewacht war, lag ich in zwei dicke Decken gewickelt allein in unserem Zelt, während von draußen laute Befehle und trockenes Lachen kamen. Von Jeremia jedoch fehlte jede Spur, sowie von jedem anderen Menschen, mit dem wir das große Zelt teilten. Nicht einmal Raymond, der sich gerne verkroch, um über diversen Zauberformeln zu grübeln, war da.

Ich fuhr mir über meine verweinten Augen, die vermutlich rot gerändert und absolut geschwollen waren und überwand meine tiefsitzende Trauer behelfsmäßig. Ich musste mich aufraffen und weitermachen, genau wie bisher. Morgen war doch schon der Tag, an dem Kaelan und ich Cordelia aus den Fängen des Königs und...meines Vaters befreien würden.

Und dann würden wir Ashbrook den Krieg erklären.

Ich atmete schaudernd aus und schälte mich aus den warmen Decken, um mich anzuziehen. Ich war der Phönix. Ich musste dabei sein, wenn sich die Truppen für den Krieg rüsteten, musste meinen eigenen Truppen, die sich durch die Ankunft Dinaras erweitert hatten, Mut machen. Es war definitiv nicht die Zeit für einen Nervenzusammenbruch.

Angezogen trat ich aus dem Zelt.

Das gleißende Sonnenlicht blendete mich, sodass ich die Hand hob und meine sensiblen Augen abschirmte. Es schien ein wirklich schöner Spätsommertag zu werden.

Ich flocht mir mein dunkles Haar zu einem Fischgrätenzopf und streckte meine müden Glieder. Der lederne Kampfanzug, den ich von Kaelan in Rushworth bekommen hatte, schmiegte sich - wie erwartet - wie eine zweite Haut an meinen Körper und fühlte sich ausgesprochen angenehm an. Außerdem gab es einige dafür vorgesehene eingenähte Taschen, in denen ich kleinere Waffen würde verstecken können und trotz meiner miserablen Laune erfüllte mich dieses Geschenk mit heller Freude. Nun war ich nicht mehr nur eine Kriegerin, sondern sah auch wie eine aus.

Kaelans Stimme holte mich aus meinen Gedanken. »Steht dir ausgezeichnet«, meinte er. »Das wollte ich dir schon gestern sagen.«

»Danke.« Ich brachte es nicht fertig, ihn anzusehen. Zu große Angst hatte ich davor, dass allein der Anblick seiner wundersamen Augen dafür sorgen würde, dass ich mich von Neuem in ein weinendes Wrack verwandelte.

»Wie geht es dir?« Er klang so sanft, so für ihn untypisch, dass ich wiederholt gegen den Kloß in meinem Hals ankämpfen musste.

»Nicht gut«, gestand ich. »Überhaupt nicht gut. Aber ich bin stark genug, damit klarzukommen.« Das musste ich. So viele Menschen zählten auf mich. Würde ich jetzt, so kurz vor dem Ziel, die Fassung verlieren... Ich schüttelte den Kopf.

BORN TO BURN (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt