» Kapitel 19 «

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»Die Menschen«, begann Raymond mit einer geübten Erzählerstimme, »halten sich von Anbeginn der Zeit für die dominierenden Individuen. Sie sind den Tieren überlegen und nutzen die ihnen gegebene Macht maßlos aus. Warum sollten sie dies auch nicht? Sie wurden doch dafür geschaffen, zu herrschen, zu unterdrücken, stolz und egoistisch zu sein.

Ich möchte damit nicht sagen, dass alle Menschen von Natur aus schlecht sind. Das sind sie nicht. Böse Menschen entscheiden sich Tag für Tag dafür, böse zu sein, und ich finde, dass jene Tatsache es noch schlimmer macht. Die Wahl zu haben und dennoch das Böse zu wählen. Glaubst du nicht auch?« Seine kleinen, dunklen Augen bohrten sich in meine. Ich antwortete nicht, weil ich viel zu vertieft in seine Worte war. Er sprach von den Menschen, als würde er nicht zu ihnen gehören.

»Die Sonnenanbeterinnen stellen eine Gefahr für sie dar. Sie verfügen über eine einzigartige, höchst natürliche Magie, und einen entwickelteren Verstand. Was Menschen über Jahren hinweg studieren müssen, lernen Sonnenanbeterinnen innerhalb kürzester Zeit. Ihre Sinne sind schärfer. Ihre Bewegungen anmutiger, koordinierter.« Er lachte spöttisch auf: »Ist es da ein Wunder, dass die vermeintlich überlegene Spezies sich bedroht fühlt? Von Geschöpfen, die sie in jedem Lebensbereich übertrumpfen? Nein, wohl kaum.«

»Wurden die Sonnenanbeterinnen also von Anfang an gejagt und getötet?«, fragte ich atemlos.

Raymond schüttelte den Kopf, dass seine ergrauten Locken hin und her tanzten: »Das zu behaupten wäre ein großer Irrtum. Früher, als die Menschen der Magie weniger abgeneigt, als sich unzählige Gelehrte mit der Alchemie beschäftigt haben, waren die Sonnenanbeterinnen gottgleich. Sie wurden verehrt, bewundert, ja, förmlich angebetet. Sieh mich nicht so überrascht an, ich könnte dir alles, was ich sage, anhand alchemistischer Werke beweisen.«

Er ließ mir Zeit, das Gesagte zu verarbeiten, bevor er weitersprach. »Du fragst dich sicherlich, wie sich die Situation deines Stammes so dramatisch hatte ändern können. Da komme ich wieder auf die Eitelkeit der Menschen zu sprechen.« Raymond blies die Wangen auf. »König Aldon kam an die Macht. Er war im Gegensatz zu seinem Vater ein sehr gläubiger Mensch, der alles, was auch nur im Geringsten mit Magie zu tun hatte, kategorisch ablehnte und verabscheute. Mit seiner und der Hilfe der Kirche nahm alles seinen Lauf. Gerüchte kamen in Umlauf, Reputationen wurden zerstört und das Volk verehrte die Magie nicht länger, es fürchtete sie. Tut es noch immer. Tragisch, wie ein Herrscher mit einem Bastard die Welt verändern kann, nicht?«

»Ein Bastard?«, hauchte ich. Ich wusste, was man König Aldon nachgesagt hatte. Jeder tat das.

»Oh, ganz recht. Aldons Ehefrau, Charleen, hat ihm nicht das geben können, was er so unbedingt wollte. Einen männlichen Nachkommen. Sie gebar nur Mädchen, und das passte ihm gar nicht. Schließlich gab er es auf und schwängerte seine fünfzehnjährige Cousine. Sie gebar ihm endlich einen Sohn, Winston, seinen Thronfolger, der nicht ganz so legitim war, wie Aldon behauptete. Winston wurde von Charleen aufgezogen, bis sie vom König hingerichtet wurde, weil er ihr die Schuld dafür gab, Ehebruch begangen zu haben. Das hätte er schließlich nicht tun müssen, wenn sie ihm, wie es von ihr verlangt wurde, einen Thronfolger geboren hätte.« Er lachte bitter auf. »Der offizielle Grund für die Hinrichtung lautete jedoch, man habe sie im Kreise einer Hexenversammlung aufgespürt, als sie sich eines Nachts davongeschlichen hatte. Sie wurde mit noch ein paar weiteren Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«

»An dem Tag begann also der Albtraum, der uns nun schon über Jahrhunderte hinweg verfolgt«, sagte ich matt.

»Genau. König Aldon hat etwas ins Rollen gebracht, das unbedingt gestoppt werden muss. Und wenn ein Mann es fertigbringt, die Welt zu zerstören, kann ein anderer sie vielleicht wieder aufbauen.«

BORN TO BURN (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt