4. Kapitel- Lucky Strikes

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Das Zeug brannte heftig in der Kehle. Angewidert starrte er auf den Flaschenhals, bevor er einen weiteren tiefen Schluck von der klaren Flüssigkeit nahm. Es war viel zu leicht gewesen sie zu klauen. Die Kassiererin an der Supermarktkasse war zu beschäftigt damit gewesen mit ihm zu diskutieren, ob er denn ohne Ausweis die Zigaretten kaufen durfte, für die sein Geld so gerade ausgereicht hatte. Schließlich hatte sie mit ihrer Kollegin beschlossen, dass er alt genug aussah, immerhin sah sie selbst jünger aus als er, und hatte ihn mit der Schachtel ziehen lassen, dabei hatte sie ganz vergessen, dass er die zwei Flaschen billigen Schnapses nicht bezahlt hatte, die er am langen Arm aus dem Laden schleppte. Niemand hatte ihn aufgehalten und er hatte sich in den Park zu irgendeiner Bank geschlichen, nicht ohne sich auf dem Weg bei einem gnädigen Kioskbesitzer ein Feuerzeug „gekauft" hatte, das er mit ein paar Cents bezahlt hatte. Jetzt saß er auf der Parkbank und ließ sich den gestohlenen Alkohol die Kehle runterlaufen. Es schmeckte grauenvoll und gegen die Kälte des Novembers konnte selbst die Wärme des Alkohols nichts ausrichten. Außerdem wurde man von einem Bier die Woche nicht unbedingt trinkfest, und weil er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, war er schon nach wenigen Schlucken kaum mehr in der Lage das Etikett der Zigarettenschachtel zu lesen, als er sich die erste Kippe seines Lebens aus der Schachtel fischte und zwischen die Lippen klemmte. Das billige Feuerzeug brauchte satte drei Versuche, bis es eine Flamme zustande brachte und die war nur mit Geduld groß genug, um die Zigarette anzuzünden. Neugierig nahm er einen Zug und gab sich große Mühe nicht zu husten. Das schmeckte noch scheußlicher als der Alkohol, von dem er jetzt erstmal noch einen großen Schluck nahm, bevor er sich überwinden konnte weiter zu rauchen.

Das war es doch, was verzweifelte Menschen taten, wenn ihnen der Knoten in der Brust so sehr anschwoll, dass sie nicht mehr wussten wohin: Rauchen und Trinken, oder etwa nicht? Immer und immer wieder hörte er ihre Worte, wie sie sie ihm entgegenspuckte und jedes Mal zog sich etwas in seiner Brust zusammen. Irgendwo auf Höhe seines Herzens direkt hinter dem Brustbein saß es, dieses grauenvolle Gefühl, das ihm die Luft abschnürte und seine Hände zum Zittern brachte. Die Kippe im Mundwinkel und die Falsche in der einen Hand starrte er auf die Parkanlage die langsam von der Dämmerung erobert wurde, während er sich mit der anderen Hand über die Buchstaben in seinem Nacken fuhr. Oh, wie war er es leid. Sie hatte keine Ahnung, wie sehr er sich gequält hatte, jeden Tag, zu gehorchen und zu funktionieren, so wie Marcus es von ihm verlangte. Wie sehr hatte er sich ein Leben gewünscht, über das er selbst bestimmen konnte. Einen Beruf, vielleicht eine Karriere und Freizeit nach eigener Wahl zu haben, hatte er sich wie das Paradies vorgestellt, anstatt tagaus tagein dem Willen eines anderen zu folgen und die Schläge zu ertragen, die die gerade heilenden Wunden wieder aufrissen. Aber das hier, war nicht wie dieses Leben und es war auch nicht wie Sklaverei. Er nahm noch einen tiefen Schluck aus der Flasche auch wenn sie sein Hirn benebelte. Er konnte nirgendwo hin, er hatte kein Zuhause, kein Geld, keine Ausbildung oder Chance auf einen Beruf. Er hatte nicht mal einen Ausweis oder irgendwelche anderen Papiere. Eine wandelnde Leiche, ohne Besitz, ohne Ziel, ohne wirkliches Leben. Seine Lippen bebten. „Das is doch alles scheiße", berichtete er dem Vogel mit schwerer Zunge, der vor seinen ausgelatschten Schuhen über den Weg hüpfte und pustete den Rauch in seine Richtung. So furchtbar das Ding auch schmeckte, die Wirkung war hervorragend. Sie löste seine Anspannung ein wenig und seine Wut konnte er wunderbar wegspülen, mit der scharfen, farblosen Flüssigkeit, die er bereits zu erschreckend großen Teilen aus der Flasche befördert hatte.

Er dachte an Jakes und den Polizeichef und an die Mitglieder des Vorstandes. Er dachte an Marcus Wutausbrüche und das Heim. Er dachte an Jordan und an Anthony und die Geschehnisse im Keller der Klinik. Die Welt bestand aus Arschlöchern und es konnte nicht so schwer sein eins von ihnen zu werden.

Clara erschauderte als ihr auffiel, dass es bereits dämmerte. Seit dem Samstag vor zwei Wochen, an dem alles begonnen hatte, fühlte sie sich nicht mehr wohl in Chestersvilles Straßen, sobald die Dunkelheit sich über die Stadt deckte und den zwielichtigen Gestalten ihren Schutz bot. Sie war mit ihrem Latein am Ende. Im Grunde hatte sie nie wirklich gewusst, wo sie suchen wollte. Sie hatte bei der Sporthalle angefangen, aber dort hatte man sich nicht einmal hineingelassen. Bis sie den Polizisten irgendwann bequatscht hatte ihr zu sagen, dass kein großer, dunkelhaariger Junge im schwarzen Shirt zurückgekehrt war, hatte sie dort gestanden. Also war sie weitergelaufen zur Klinik und hatte bei Jakes Sklaven nachgesehen. Einen Moment war sie geblieben, erschrocken über den Anblick, den der ausgemergelte Junge bot und dann hatte sie bei der Schule und beim Kino gesucht und schließlich sogar in der Kneipe. Er hatte kein Geld. Entsprechend würde er nirgendwo sein, wo man bezahlen musste und in den oberen Quartern war so ein Ort nicht so leicht zu finden. Fröstelnd zog sie die Jacke enger um sich. Bei der Kälte war er ja wohl hoffentlich nicht draußen irgendwo, in seinem dünnen Shirt. Da die Stadt nicht gerade klein war, hatten die Wege viel mehr Zeit in Anspruch genommen, als ihr lieb war und so stand sie nun ziemlich unschlüssig vor der Tür der Kneipe und beschloss, dass sie lieber wieder weiter nach oben ging, bevor es noch dunkler wurde. Heute konnte sie wohl leider nicht auf Rowans Verteidigung hoffen und sie hatte nicht vor eine Begegnung wie damals zu wiederholen. Also wanderte sie die Straßen wieder hoch und überlegte, wohin sie sich zurückziehen würde, an seiner Stelle. Konnte es sein, dass er zu der Villa zurückgekehrt war, die immerhin theoretisch sein Zuhause war? Hatte er einen Schlüssel dafür? Wenn nicht, kannte er vielleicht einen Weg rein, ohne die Alarmanlage auszulösen, oder konnte er diese rechtzeitig ausschalten? Würde er es überhaupt wagen dorthin zu gehen? Vermutlich nicht. Egal ob nun aus Folgsamkeit, oder weil einfach zu viele negative Erinnerungen damit verbunden waren, niemals würde er dorthin als Erstes gehen.

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