Teil 19

26 0 0
                                    

Ich wusste nicht, ob ich Angst haben oder mich freuen sollte, als die naive Schwester mir die Tür zur Toilette öffnete. "Danke", keuchte ich, völlig außer Atem von dem kurzen Weg. Sie nickte bloß eingeschüchtert und ließ mich eintreten.

Ich hielt mich am Waschbecken fest und wankte immer näher zu dem großen Spiegel, nachdem ich die Tür abgeschlossen hatte. Ich schloss die Augen, ging ein paar Schritte vorwärts und öffnete sie ganz langsam wieder.

"Was ist das????!!!!!!!", schrie ich und konnte gar nicht glauben, dass dieses hässliche, zerfetzte Stück Scheiße da im Spiegel ich sein sollte. Die Hautfarbe wechselte jeden Zentimeter und die Nähte waren stark gerötet und hervorgequollen. Es fehlten die Augenbrauen und Wimpern, meine Lippen waren nicht mehr so voll und kirschrot wie sie es immer gewesen waren, sondern seltsam orange und verschoben. Auch meine Haare hatten schon mal bessere Zeiten durchlebt. Sie waren viel zu kurz, an manchen Stellen noch angekohlt oder sogar tiefschwarz, was nun wirklich nicht zu meinem wundervollen bitchblond passte. Ich schob die Fransen des Grauens zur Seite, woraufhin meine angefressenen Ohren zum Vorschein kamen. Ich sah mir nochmal das Gesamtbild an und konnte nicht glauben, dass ein einziger Abend die Schönheit einer Frau wie mir so drastisch zerstört hatte. Nicht mal meine gerade Nase war mehr wiederzuerkennen: sie war durch die vielen schrägen Hautfetzen, die man aufgenäht hatte, total verschrumpelt geworden wie ein alter Apfel, den keiner mehr haben wollte.

Ich konnte diesen grausamen Anblick nicht ertragen, mein Gehirn setzte aus und ich schlug auf den Spiegel ein. "Ich hasse dich!", rief ich, obwohl ich gar nicht genau wusste, wen ich damit überhaupt meinte. "Du bist so hässlich! Hässlich wie sonst niemand!" Vermutlich handelte es sich hierbei um mein Spiegelbild. "Du hast gelogen, du verfickter Spiegel, ich kann nicht so behindert aussehen, das geht nicht! Fick dich doch in die Hölle!", schrie ich und pickte eine große, glitzernde Scherbe vom Boden auf. Da die Haut in meinem Gesicht größtenteils von irgendwelchen Leichen stammte anstatt von mir, spürte ich die dickflüssigen Tränen nicht, die aus meinen Augen kamen. "Ich kann nicht noch hässlicher werden", murmelte ich, riss den Verband runter und schnitt in meine Verpackung am ebenso vernarbten und hässlichen Arm. Meine Haut war es ja nicht.

Das Blut, das aus mir herausquoll, verschlimmerte die Gedanken nur noch mehr: es war das Einzige, was schön geblieben war, mein Blut, mein Inneres.

Ich schnitt wieder und wieder, tiefer und tiefer, bis ich meinte, schon bald bei den Knochen angekommen zu sein. Natürlich spürte ich den Schmerz und natürlich schrie ich wie ein sterbender Schwan, dabei das laute Gebrüll vor der Toilettentür ignorierend, doch ich hatte es verdient.

Wie kann man so blöd sein und sein ganzes Leben innerhalb von wenigen Stunden auf diese Weise zerstören? Einfach alles kaputt machen? Wie?! Und warum hat Claire alles nur noch schlimmer gemacht? Die ganze scheiß Schule hat gesehen, was ich gerade gesehen habe! Dieses furchtbare Bild... Ich... Ich bin ein Nichts! Ich habe alles verloren!

"Zue, hör auf!" Erst Marcs mahnender Ruf holte mich langsam wieder zurück an die Oberfläche meiner Gedanken und meiner Wut. "Nein! Ich bin an allem Schuld, mein ganzes Leben ist zerstört! Ich brauche es nicht mehr! Wenn ich so aussehe, kann ich auch gleich sterben, wer wird mich denn noch mögen?!", schnauzte ich ihn an und fuhr abermals mit der Spiegelscherbe durch mein Fleisch, das einzige, was noch hundertprozentig mir gehörte.

The inner beauty #GlamBookAward19 #JungleAward19 #firebirdaward2019 #iceSplinterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt