Sollte ich es ihr erzählen, oder sollte ich es für mich behalten? Ich denke, es wäre Phia gegenüber unfair gewesen, hätte ich ihr solch eine Neuigkeit verschwiegen. Sie hatte mir all ihre Geheimnisse verraten. Angefangen bei ihrem traumhaften, perfekten ersten Kuss unter einem Kirschbaum, dessen weiße Blüten langsam auf das unschuldige, glückliche Paar hinab rieselten, während zeitgleich ein Sonnenuntergang ihr erstes romantisches Ereignis abrundete, bis hin zur peinlichen Begegnung ihres letzten Ex-Freundes nach einer Party, der ihr - als ob das nicht schon genug gewesen wäre - auch noch auf ihre neuen, teuren Schuhe kotzen musste. Also gut. Ich beschloss, ihr zu schreiben, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, als was ich dieses anstehende Rendezvous (?) bezeichnen sollte. War es ein Date, oder hatte er tatsächlich keine weiteren Absichten und sah das Ganze nur als eine Art Wiedergutmachung an? Ich wollte wirklich nicht voreingenommen sein, aber meine Erfahrungen hielten sich, was das Thema Jungs anging, in Grenzen. Zusätzlich sorgten die kleinen Lästereien, die sich an unserer Schule leider nicht vermeiden ließen und mit denen ich früh Bekanntschaft schloss, nicht gerade für die besten Voraussetzungen. Ein weiterer Grund, warum ich Phias Rat gut gebrauchen konnte.
Nachdem ich ihr eine Nachricht Punkt 21 Uhr hinterlassen hatte, starrte ich auf das Display meines Handys und erwischte mich dabei, wie mein Blick zu den beiden grünen Häkchen und anschließend hoch zu der "zuletzt online um 20:59 Uhr"-Anzeige wanderte. Ich hasste diese Anzeige. Jedes Mal, wenn ich jemanden um Hilfe bat, verpasste ich ihn, laut dieser Anzeige, um nichtmal eine Minute, aber sobald ich mir fünf Minuten Ruhe gönnen wollte, funktionierte sie, wie geschmiert.
Gerade, als ich beschloss das Handy aus der Hand zu legen, leuchtete es auf.
"Ja?"
Es war Phia.
"Du erinnerst dich doch sicherlich noch an unseren neuen Schüler?", begann ich langsam.
"Wie könnte ich den vergessen?", scherzte sie und als ob ich es nicht schon geahnt hätte, war er wieder da - der Pädophilie-Smiley.
"Lass das! :D", antwortete ich.
"Was?"
"Diesen Pädo-Smiley!"
"Etwa den hier?"
Sie ärgerte mich und ich musste, kaum übersehbar grinsen, denn sie hatte nicht nur einen, oder zwei, sondern gefühlte zwanzig hinter ihrer Nachricht platziert.
"Phia! :D Was ich dir eigentlich erzählen wollte war, dass ich eine Verabredung mit Haz habe."
Ein paar Minuten in absoluter Funkstille vergingen. Aus ein paar Minuten wurden mehrere und mit der Zeit fragte ich mich, warum sich Phia so viel Zeit zum Antworten nahm. Wusste sie nicht wer Haz war? Wie denn auch? Sie kannte nur einen neuen Schüler, nicht Harry, geschweige denn Haz.
Während ich mir weiterhin unnütze Vorwürfe machte, rief mich auf einmal jemand an.
"Haz, also. Hm ... klingt verdammt scharf."
"Phia!", lachte ich in das iPhone an meinem rechten Ohr.
"Nicht einmal ein Tag an dem ein attraktiver, neuer Schüler auftaucht und schon hast du ein Date. So kenne ich dich ja gar nicht."
Übereilt antwortete ich: "Das ist kein Date! Ich habe ihn in der Cafeteria, mehr oder weniger umgerannt und er wollte nur eine Kleinigkeit wieder gut machen."
Es war also kein Date. War das meine endgültige Meinung? Kein Date? Es fühlte sie nicht richtig an, zu behaupten, wir hätten kein Date, aber im Grunde genommen wusste ich es nicht besser.
"Das klingt schon eher nach dir", scherzte sie, "aber was möchte er denn wieder gut machen?"
"Ähm ... Also, ich habe ihn heute nicht das erste Mal gesehen.", gestand ich ihr etwas schüchtern.
Bei dem Gedanken an unsere erste Begegnung, wurde mir mulmig. Nervös drehte ich eine dünne Strähne meiner langen, hellblonden Haare, zwischen Zeige- und Mittelfinger ein und aus.
"Ich höre.", bestätigte sie mir.
"Am Sonntag war ich in Wandas Bäckerei, um die Brötchen, die meine Eltern für gewöhnlich bestellen, abzuholen und er ..."
"Ja?", wurde ich unterbrochen.
"Er hilft Wanda, aber als er die Tür zur Theke betrat und mich sah ... Naja, von da an verhielt er sich merkwürdig und rannte letztendlich mit den Worten 'Ich kann das nicht!' aus der Bäckerei."
Ein kurzes Schweigen folgte.
"Hm ..."
"Hm?", fragte ich - insofern man durch einen Laut eine Frage äußern konnte.
"Das ist wirklich merkwürdig. Und, du bist dir sicher, dass du ihn nicht schon kanntest?"
Eine ähnliche Frage hatte mir Wanda bereits gestellt und wie in ihrer Bäckerei, verneinte ich auch dieses Mal.
"Woher sollte ich ihn kennen?"
"Vielleicht aus einem früheren Leben und jetzt seid ihr, wie Romeo und Juliet füreinander bestimmt. Was, wenn ihr Romeo und Juliet seid und endlich eine neues Leben gefunden habt, in dem ihr wieder vereint sein könnt?", schwärmte sie albern.
"Phia! Romeo und Juliet haben sich in Shakespeares Tragödie umgebracht. Ich hatte eigentlich vor, noch ein Weilchen zu Leben und außerdem bin ich keine Juliet und er kein ..."
Ich stockte. War er kein Romeo? Wer, oder was bestätigte mir das?
"Er kein was? Romeo?", stocherte sie.
Ich konnte sie zwar nicht sehen, aber mir war durchaus bewusst, wie ihr Gesichtsausdruck am anderen Ende der Leitung aussah. Verglichen mit der Grinsekatze aus "Alice im Wunderland", stellte sie eine gewisse Konkurrenz dar - zumindest in solchen Situationen.
"Das finden wir schon noch heraus, aber erstmal brauchst du was vernünftiges zum Anziehen. Wann seid ihr verabredet?"
"Er holt mich am Donnerstag um fünf ab.", informierte ich sie.
"Perfekt! Dann haben wir noch genug Zeit. Wir gehen Mittwoch shoppen! Ich kenne ein paar Läden in denen du mit Sicherheit fündig wirst."
Erneut wurde ich in eine Verabredung gezogen, die, obwohl meine Person anwesend war, ohne mich getroffen wurde.
"Schlaf gut, Kimi!", verabschiedete sie sich.
"Phia! Warte! Ich ..."
Doch sie hatte bereits aufgelegt.
Mit einem großen Seufzer und kein Stück schlauer, nur um ein Treffen reicher, ließ ich mich in mein großes Kopfkissen, gefüllt mit Daunenfedern und umhüllt von gemütlichem, weiß-geblümtem Stoff fallen. Ich musste endlich lernen, mich durchzusetzen, ansonsten würde man mir auch noch mein Ja-Wort vor dem Altar abnehmen.