Marcus Geschenk

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Ich setzte mich zu Hannes an den Tisch und sah ihn an. Er blickte nicht auf, seine Hände hatte er zu Fäusten geballt und seine Knöchel traten weiß hervor. Er stand nach einer Weile einfach auf und lief in sein Zimmer. Ich hörte, wie er die Tür zuknallte und kurz danach drehte er die Musik so laut auf, dass ich den Bass deutlich zu spüren bekam, da die Gläser wackelten. Er versuchte sich damit abzureagieren. Ich machte mich daran, den Reis zu kochen. Dazu machte ich Erbsen und Spiegelei. Als ich fertig war deckte ich den Tisch und stellte alles hin, doch ich wusste, Hannes würde nicht kommen, wenn ich ihm schrieb oder ihn rief, was er nicht mal gehört hätte bei der Musiklautstärke. Ich lief also die Treppe nach oben und klopfte leise an seine Tür. Mir war klar, dass er es unmöglich gehört hatte, aber es war eine Sache des Respekts. Vorsichtig öffnete ich die Tür und blickte ins Zimmer. Mein Bruder lag in seinem Bett, auf dem Bauch und das Gesicht im Kissen vergraben. Sein ganzer Körper zitterte und war verkrampft. Es muss Jahre her sein, das ich ihn das letzte Mal so aufgelöst gesehen habe. Er zeigte selten seine Emotionen, schon gar nicht mir gegenüber. Er hatte mich immer noch nicht bemerkt, ich war hin und hergerissen, ob er jetzt lieber seine Ruhe wollte oder jemanden zum Reden. Ich entschloss mich für drittens, dass er einfach nur jemanden an seiner Seite brauchte, ich ja auch. Ich lief zu ihm hin und legte mich vorsichtig neben ihn, er drehte seinen Kopf zu mir und sah mich an, ab da konnte ich auch nicht mehr und fing an wie ein Wasserfall zu heulen. Er setzte sich auf und nahm mich in den Arm, ich drückte ihn ganz fest an mich, im Moment war alles, was wir wirklich brauchten nur der Gegenüber. Wir heulten noch eine ganze Weile und saßen Arm in Arm da. Wir hatten uns so fest umschlossen, dass ich mir sicher war, wenn Außenstehende uns sehen würden könnten sie die Arme und Beine nicht eindeutig zuordnen. Es tat gut zu merken, dass er sich mir öffnete, dass er da war und ich ihn einfach nur halten konnte. Irgendwann hatten wir keine Lust mehr zu sitzen, weshalb wir uns nach hinten fallen ließen, wo wir dann immer noch fest umklammert da lagen und weinten. Nachdem wir uns etwas beruhigt hatten und nur noch schluchzten stand er auf und machte die Musik aus. Wir gingen nach unten und wollten endlich essen, doch es war bereits komplett abgekühlt, also machte ich es nochmal in der Mikrowelle warm. Lustlos aßen wir unser Essen und räumten anschließend die Küche auf und gingen dann nach oben ins Bad. Hannes spritze sich kaltes Wasser ins Gesicht, während ich meine Haare neu machte, weil durch das Liegen war der Zopf nun komplett zerstört. Diesmal machte ich nur einen einfachen Pferdeschwanz. Dann ging ich zum Waschbecken und wusch mein Gesicht, während Hannes seine Haare richtete, die in alle Richtungen abstanden. Als wir fertig waren standen wir vorm Spiegel und betrachteten uns von oben bis unten. „Öhhm, kann ich einen Hoodie von dir haben?", unterbrach ich das Schweigen. Hannes sah mich von der Seite an und fragte nur grinsend: „Warum ziehst du immer meine Sachen an?" Ich grinste nur doof zurück und zuckte mit den Schultern. Er lief los in Richtung seines Zimmers und ich watschelte nur hinterher. Dort angekommen öffnete er seinen Schrank und starrte hochkonzentriert hinein um dann nach einem roten Pulli zu greifen und ihn mir zuzuwerfen. „Dankeeeeeeee!!!!!", mit diesem Wort fing ich den Pulli auf und rannte in mein Zimmer, dort zog ich mich um und stellte gleich das Bild von Emma und mir auf meinen Nachttisch. Dabei fiel mein Blick auf meinen heißgeliebten 'Wecker und es war bereits 15:03. Ich rannte zu Hannes. „Jaja, wir gehen wieder rüber!", sagte er nachdem ich in seinem Zimmer stand und er mich amüsiert musterte.
In diesem Moment fiel mir ein, dass wir ganz schön lange da rumlagen und geweint hatten. Weiter konnte ich aber nicht darüber nachdenken, denn mein Bruderherz hatte mich am Arm gepackt und aus seinem Zimmer in den Hausflur gezogen. Dort zogen wir uns unsere Schuhe an und liefen wieder zum Nachbarhaus. Ich sah Hannes an und er mich, denn wir sahen immer noch leicht verheult aus. Ich nahm seine Hand und er drückte meine ebenfalls. So klingelten wir bei den Gunnarsens und Mac machte uns die Tür auf, nur um uns kurze Zeit später ins Auto zu schieben. Anne blieb mit den beiden kleinen Mädchen zu Hause, aber sonst fuhren alle anderen mit. Wir wurden kurz komisch angeschaut, weil wir ja verheult aussahen, aber zum Glück fragte niemand nach und so fuhren wir los in Richtung Flughafen. Ich hielt immer noch Hannes Hand und konnte auch nicht stillsitzen, ich rutschte die ganze Zeit nervös auf meinem Platz umher. Ich war so aufgeregt. Irgendwann ging es meinem Bruder auf die Nerven und er legte einen Arm um mich und ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. So schlief ich dann bald ein.
Als ich aufwachte spürte ich Hannes Kopf auf meinem Liegen, was wohl hieß er war ebenfalls eingenickt. Ich bewegte mich nicht um ihn nicht aus Versehen zu wecken, meine Augen hielt ich geschlossen. Ich nahm wahr, wie sich die anderen über uns unterhielten und so lauschte ich gebannt. Ich konnte die Stimmen gut zuordnen. Da sie alle anders klangen.
Mac: „Habt ihr die Augen der beiden gesehen?"
Tilly: „Ja, ich glaube sie haben geweint..."
Charlie: „Naja, die Musik war ja nicht zu überhören.."
Mac: „Aber warum sollten sie an ihrem Geburtstag weinen? Da ist man doch fröhlich oder nicht?"
Tinus: „Vielleicht ist was passiert?"
Tilly: „Ich mache mir ein wenig Sorgen.."
Charlie: „Brauchst du nicht, sie haben sich doch gegenseitig und wir sind ja auch noch da!"
Mac: „Pshhht nicht so laut!"
Charlie: „Sorry."
Tilly: „Denkt ihr, wir sollten sie nachher danach fragen?"
Mac: „Ich denke, wenn sie reden wollen, dann kommen sie von alleine."
Charlie: „Marcus hat recht, wir sollten sie nicht bedrängen."
Erik: „So wir sind da. Weckt ihr die beiden Mal bitte?" Ich spürte, wie das Auto zum Stehen kam und der Motor abgestellt wurde. Langsam öffnete ich meine Augen und blinzelte. Ich rüttelte leicht an Hannes, der kurz danach seinen Kopf anhob und ich konnte mich nun aufsetzen. „Ahh sie sind von alleine wach geworden!", stellte Tinus fest. Wir stiegen aus und ich streckte mich erst mal. Dann kam Mac auf mich zu und hielt mir einen Schal hin. Ich sah ihn fragend an und er sagte nur: „Du musst deine Augen verbinden!" Spielerisch verdrehte ich meine Augen und er verband sie mir daraufhin. Jetzt sah ich nichts mehr und musste den anderen wortwörtlich blind vertrauen. „Charlie du trägst sie wie abgemacht?", hörte ich Mac oder Tinus sagen. Die beiden klangen manchmal so gleich, dass ich mir nicht sicher war. „Mads, Charlie steht vor dir.", sagte nun Hannes. Jemand nahm meine Arme und legte sie auf die Schultern meines Freundes. Dann spürte ich zwei warme Hände an meinen Hüften und jemand hob mich hoch, und ehe ich mich versah, trug Charlie mich auf seinem Rücken. Ich weiß nicht, wer mich hochgehoben hatte, aber vermutlich Hannes. Hoffte ich jetzt einfach mal. Charlie setzte sich in Bewegung und ich konnte hören, wie uns die Anderen folgten. Plötzlich kam ein Temeraturumschwung von kalt zu angenehm warm, aber stickig. Daraus schloss ich, dass wir das Flughafengebäude betreten hatten. Wir liefen noch ein paar Schritte, bis wir stehen blieben. Nach zehn Minuten nur dumm rumstehen setzte Charlie mich auf meine Füße und Mac nahm mir den Schal ab, hielt mir aber immer noch die Augen zu. Dann hörte ich einen unverwechselbaren Schrei. Mac nahm seine Hände weg und ich blickte nach vorne. Mir liefen die Tränen bereits in Strömen übers Gesicht. Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte los..

AußenseiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt