Cran - Kapitel 10

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Vom Abendessen gesättigt, setzten sich die fünf Mädels auf die Stühle. Cran polsterte sich die harten Plastikstühle mit einer Decke aus, was die anderen schnell nachmachten. Für den ersten Abend wollten die fünf gerne alleine sein. Cran holte ihr Handy raus und öffnete die App, die sie am vorigen Tag heruntergeladen hatte. Sie wählte den Modus, indem die App einfach nur Fragen bzw. Aufgaben bereitstellte. „Darf ich zuerst bestimmen?", fragte Cran. „Klar, ist ja deine App!", meinte Deli. So bestimmte Cran Jan, die Pflicht nahm. „Schreie „Hallo" laut aus dem Fenster", las Cran vor. Jan ging zum Fenster, öffnete es und sagte „Hallo", in die Natur hinein. „Lauter!", verlangte Caro. „Haaaaallo!", schrie Jan aus dem Fenster und passte genau auf, dass niemand in der Nähe war. Schnell schloss sie das Fenster wieder. „Das nächste Mal nehm ich Wahrheit", stöhnte sie und bestimmte Alena. „Wahrheit!", lachte diese. Cran betätigte den entsprechenden Knopf. „Verrate der Runde dein tiefstes Geheimnis, was niemand sonst kennt", las Cran vom Bildschirm ab. Sie schaute hoch. Alenas Gesichtsausdruck hatte sich innerhalb einer Millisekunde gewandelt, sie schien sich auf einmal gar nicht mehr wohlzufühlen. Cran beeilte sich zu sagen: „Das bleibt natürlich unter uns!" Es schien ein richtiger Kampf in Alena abzulaufen, was sie ihren Freundinnen erzählen sollte. Schließlich schien sie sich entschlossen zu haben, und Cran las an ihrer Miene ab, dass sie ihnen etwas sehr privates erzählen würde. „Ich muss euch was erzählen", kam es aus Alenas Mund. Sie strahlte auf einmal eine traurige Sicherheit aus, ihr Geheimnis preiszugeben. „Mein Vater..." Ihre Stimme brach ab. „Mein Vater hat..." Plötzlich war diese spontane Entschlossenheit wieder der Unsicherheit gewichen, doch Alena fing sich schnell. Mein Vater hat mich sexuell missbraucht."

Es schienen Berge von Alenas Herzen gerollt zu sein, direkt auf die Herzen der anderen herauf. Es schossen tausende Fragen durch Crans Kopf – Was...? Wie...? Warum...? – Doch Alena war noch nicht fertig. „Mein Vater hat mich jahrelang sexuell missbraucht", stellte sie fast mit einer Art Verwunderung fest, als würde die Wiederholung die Situation irgendwie verbessern. „Er hat angefangen, als ich fünf war", erzählte Alena mit einer Mischung aus Selbstvertrauen und Unsicherheit, die Cran noch nie erlebt hatte. „Bis er vor einem halben Jahr weggezogen ist, hat er es immer wieder gemacht." Alena war jetzt elfeinhalb, sie hatte im Januar Geburtstag. „Sechs Jahre lang", erzählte sie, fast wie ein Märchen, sich selbst von dem Erzählten distanzierend, „Donnerstag nachmittags, wenn Mama arbeitet." Und dann, als hätte sie es vergessen: „Und Dienstag abends, wenn sie im Chor gesungen hat. In den Ferien und vor der Schule auch noch mittwochs vormittags." Cran brannten sich Alenas Worte wie Feuer ins Gedächtnis. Alena schien nicht mehr aufhören zu wollen, und keins der Mädchen war fähig, sie am Weiterreden zu hindern. „Zuerst waren es Berührungen. Später wollte er mehr." Alena erzählte nicht genau, doch Cran drehten sich bei ihren Vorstellungen der Magen um. „Einmal fuhr er mit mir für ein Wochenende weg." Cran war wie zugeklebt mit schrecklichen Bildern, die sie sich durch viele Bücher gut ausmalen konnte, aber bisher auch auf Abstand geblieben waren. All jene detailgenauen Beschreibungen aus den Büchern, die Cran sich angeeignet hatte, überlappten sich jetzt mit Alena. Alena, die schreiend auf einem Bett lag. Alena, die in jungen Jahren zu schrecklichen Taten gezwungen wird. Cran konnte nicht mehr. Sie brachte ein „Klo" heraus und verschwand aus der Tür. Nur mit Mühe schleppte sie sich ins Bad, wo sie ihren Tränen freien Lauf lassen konnte.

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