Probenfahrt

Deli - Kapitel 17

Deli ließ ihren Blick schweifen. Das Gelände der Jugendherberge war groß, es gab genug Platz um ungesehen zu bleiben. Deli hatte ihren Platz gefunden. Eine bequeme Astgabel, von Blicken anderer abgeschirmt, dennoch konnte sie fast das gesamte Gelände überschauen. Ihr Blick blieb an einer Gestalt hängen, die an ein Fenster gelehnt stand. Das Fenster der Big Band, wie sie nach kurzem Überlegen feststellte. Moment, war das nicht Jan? Delis Blick blieb auf Jan ruhen. Eigentlich war sie schon neidisch auf sie, auch wenn sie sich das nicht gerne eingestand. Jan hatte ein unbeschwertes Leben, eine liebende Familie, sie hatte gute Noten, war begabt und motiviert. Deli schaute sie sich an. Jan lag da, genoss scheinbar die Sonne. Ohne ihren Blick von der Freundin abzuwenden lehnte sich Deli an den Stamm. Warum konnte es nicht immer so traumhaft sein.
Die Sonnenstrahlen brachen sich an den Blättern, die von einer leichten Brise hin und her bewegt wurden. Deli schaute unterbewusst zu als ihre Freundin aufstand. Jan ging in ihre Richtung, zu den Bäumen, die ein wenig Schatten versprachen. Ein Schauer lief über Delis Rücken. Was, wenn Jan sie entdecken würde? Ja, was ist dann?, fragte sie sich selbst. Nichts! Ihre Freundin würde sie verstehen. Vielleicht würde sie ja auch etwas probieren wollen? Deli mochte sich nicht eingestehen, dass sie die Genugtuung verspüren wollte etwas von der perfekten Hülle Jans bröckeln zu lassen.
"Hey, Jan!" Ihre Freundin drehte sich um. "Oh, hi, Deli!" Jan, die gerade wenige Meter neben Deli's Baum langgegangen war, änderte nun ihren Kurs. Nach einigen Sekunden saß sie direkt neben ihrer Freundin. Jan lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss das Gefühl von über ihr Gesicht tanzenden Sonnenstrahlen. Deli war nicht nach Augen schließen. Sie drehte sich zu Jan um. "Sat mal, das mit Alena? Hättest du das gedacht?" Jan drehte ihren Kopf und öffnete ein Auge. "Nein, nie im Leben. Ich meine, ich habe Bücher gelesen und Dokumentationen geschaut. Aber so etwas, dass das ausgerechnet Alena passiert..." Jan öffnete auch ihr zweites Auge. "Nein, das hätte ich nie gedacht", stimmt Deli ihr zu. Sie holt die kleine Tüte wieder heraus. "Willst du auch, Jan?" Diese schaut erst sie, dann die Kapseln fragend an. Kurz bekommt Deli Angst. Es liegt ein kritischer Ausdruck in Jans Augen. Sie ist sich ziemlich sicher dass Jan weiß, was diese Kapseln sind. "Ist ganz gut, das Zeug", sagt Deli beiläufig. "Ja, sicher", sagt Jan. Sie nimmt sich eine der kleinen Kapseln. Deli ist überrascht, positiv überrascht. Auch wenn das schlechte Gewissen an ihr nagt. Doch das ignoriert sie. Warum sollte sie ein schlechtes Gewissen haben? Es war einzig und allein Jans Entscheidung. Deli lehnte sich zurück, neben Jan, und genoss die Stille. Es war ein schöner Sommertag. Kaum eine Wolke zu sehen zwischen den hellgrünen Blättern. Die nächste Probe schien unendlich weit weg. Es zählte das hier, und jetzt, und in diesem Moment wollte Deli nichts anderes als für immer auf genau diesem, wunderbaren Baum an diesem sonnigen Tag liegen zu bleiben.