Drei

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Ich hatte den beiden Polizisten gesagt, dass ich mich nicht daran erinnern kann, was passiert ist. Das war die Wahrheit. Sie sagten mir, dass ich seit fast 24 Stunden hier war. Dass ein Türsteher mich gefunden hatte, den Krankenwagen gerufen und die Polizei verständigte. Ich dachte mir, dass es bestimmt Jeremy gewesen war. „Ist er hier?", fragte ich, „Der Türsteher meine ich. Ich würde mich gerne bei ihm bedanken". „Ja, er hat die ganze Zeit hier gewartet. Sein Name ist Jeremy Hill. Kennen Sie ihn?", wollte Officer Baldwin wissen. „Er wohnt in meiner Nachbarschaft, da sieht man sich ab und zu", sagte ich wage. Ich wollte nicht, dass er meinetwegen Schwierigkeiten bekommt. Schließlich war es nicht legal, dass er mich in den Club schleuste, denn ich war noch nicht 21.

„Falls Ihnen noch irgendwas einfallen sollte, zögern Sie nicht sich zu melden. Ich leite außerdem eine Gruppe, die bei der Bewältigung von traumatischen Ereignissen helfen soll. Überlegen Sie es sich. Hier ist meine Karte", sagte Officer Danilo. Justin.. Mein Justin. Mein strahlender Ritter. Er war schon immer ein Held gewesen. Mein ganz persönlicher Held. Wieso erkannte er mich denn nicht?

Officer Baldwin nickte mir beim Rausgehen zu. Justin legte die Karte auf den Nachtschrank neben meinem Krankenhausbett und schien einen Moment zu überlegen, als er mir noch einmal ins Gesicht sah. Dann wandte er sich jedoch ab und ging ebenfalls raus. Sie schickten Jeremy rein. Er musterte mich, hatte einen besorgten Ausdruck im Gesicht.

„Du siehst echt ganz schon lädiert aus. Sorry, wenn ich das so sage, aber ich würde dich gerade nicht erkennen, wenn ich nicht wüsste, dass du das bist Angelina. Dein hübsches Gesicht ist ziemlich angeschwollen", sagte er und in seiner Stimme schwang eine Sanftheit und Traurigkeit mit, die ich so von ihm gar nicht kannte. Ich lächelte ihn müde an. „Danke Jeremy, das baut mich wirklich auf", versuchte ich es mit einem Scherz, verzog aber direkt wieder das Gesicht, denn meine Wange schmerzte, als ich grinsen wollte. „Hast du gesehen, was passiert ist? Und wer das war?", wollte ich von ihm wissen. Er war vermutlich der Einzige, der mir irgendwelche Antworten liefern konnte.

„Ich wusste ja, dass du feiern wolltest, also habe ich die Tanzfläche nach dir abgesucht, habe dich aber nicht mehr gesehen. Dann habe ich in allen anderen Räumen nachgesehen, sogar auf dem Frauen Klo. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du so früh nach Hause abgehauen bist, eigentlich gehen wir ja sonst nach meiner Schicht zusammen. Da dachte ich mir, dass irgendwas nicht stimmt", er sprach zum Ende hin so leise, dass ich ihn kaum noch verstand. „Schließlich habe ich Jack nach den Überwachungsvideos gefragt. Zum Glück haben wir einige Kameras im Club. Sonst stehe ich nicht so auf Spionage, aber dieses Mal hat es dir deinen süßen Arsch gerettet. Verdammt, es waren doch nur 15 Minuten vergangen, nachdem wir...". Er stockte kurz in seiner Erzählung.

„Auf dem Video war leider nicht so viel zu erkennen, nur, dass du tanzt, dann schwenkte die Kamera weg, im nächsten Moment tanzt du mit jemandem, aber das Gesicht ist nicht drauf, nur der Rücken war zu sehen. Verdammt, Mann. Dann hat die Kamera wieder rumgeschwenkt und auf der nächsten Runde warst du weg. Das ging so schnell, innerhalb von zwei verdammten Minuten warst du einfach nicht mehr da", er war nun wütend und raufte sich die Haare. „Und dann?", fragte ich sanft und legte meine Hand in seine. Sie sah so klein aus, wie die eines Kindes im Gegensatz zu seinen großen Pranken. Er schloss seine Finger um meine und blickte nachdenklich an einen Punkt über meinem Kopf.

„Dann habe ich mir die anderen Perspektiven vorgenommen, die vor den Toiletten, am Eingang und nach hinten zum Parkplatz, bis ich dich wiedergefunden habe. Dieser Scheißkerl hat dich über seiner Schulter getragen und hinter dem Club in eine Seitengasse geschleppt. Mehr konnte ich nicht sehen und auch den Kerl nicht. Als ob er wüsste, wie er sich hinstellen musste und wie er laufen musste, damit man sein Gesicht nicht sehen kann. Scheiße, Angelina! Hast du irgendwelche Feinde, von denen ich nichts weiß?", er sah mich an und versuchte irgendwas in meinem Gesicht zu lesen, ich wusste aber noch nicht was. Sicher hatte ich eine Menge Leute in meinem Leben getroffen und nicht alle waren mir gegenüber freundlich, eigentlich sogar die wenigsten. Aber als Feinde würde ich sie nicht bezeichnen. Eigentlich war ich immer die Jenige, welche sich, wenn überhaupt, an den ganzen Arschlöchern rächen sollte. Ich hatte wirklich Gründe dafür. Aber warum sollte jemand mich gezielt aussuchen?

„Nein... ich weiß nicht, eigentlich nicht. Ich bin doch total unbedeutend. Muss ein Zufall sein...", antwortete ich ihm und blieb damit so nah an der Wahrheit, wie möglich. Ich wusste es wirklich nicht. „Die Videos werde ich der Polizei geben, sobald ich weiß, dass du hier sicher bist", sagte Jeremy. „Sag mir bitte noch, wie du mich gefunden hast...", bitte ich ihn. „Ich bin so schnell es ging in die Gasse gerannt, in der der Typ mit dir verschwunden war. Leider habe ich ihn da nicht mehr angetroffen, sonst hätte ich ihn eigenhändig getötet, das kannst du mir glauben. Wie du da gelegen hast... Dein Anblick, der... das... Scheiße! Angelina, dein Kleid war zerrissen und du hast aus deinem Unterleib geblutet. Da war so viel Blut... Erst dachte ich schon, du wärst tot, du sahst so leblos aus, aber dann habe ich deinen Puls gecheckt... Ich weiß nicht, ob ich die Bilder je aus meinem Kopf rauskriege. Das war so verdammt grausam...", er stockte immer wieder in seinen Schilderungen, „Ich habe sofort den Notarzt angerufen und die Polizei".

Mir liefen ungehemmt die Tränen übers Gesicht, ich konnte es nicht verhindern. So wie er es erzählte, wühlte mich das wirklich auf und ich konnte hören, wie sehr Jeremy ebenfalls mit den Tränen kämpfte. Ich hatte ihn noch nie so emotional erlebt. Ich weinte nicht wegen dem, was mir passiert war, sondern wegen Jeremy. Weil Jeremy das alles gesehen hatte und sich offenbar selbst Vorwürfe machte. „Ich konnte dir nicht helfen, konnte es nicht verhindern. Es tut mir so leid, so sehr, Angelina!", bestätigte er meine Befürchtungen. „Jeremy... es ist schon gut, du kannst nichts dafür. Und du hast mir geholfen. Ohne dich wäre ich bestimmt nicht mehr am Leben. Also bitte, mach dir keine Vorwürfe...", versuchte ich ihn zu beruhigen und zu trösten.

Er sah mich wieder traurig an, er umarmte mich, drückte mich an sich. Als er sich von mir löste, konnte ich es in seinen Augen sehen. Er würde mich nie wieder als Frau betrachten können. Für ihn war ich jetzt Angelina, das Vergewaltigungsopfer. Das Opfer. Ich hasste es die Opferrolle einzunehmen. Diese Rolle hatte ich so satt, ich kannte sie zur Genüge. Ich wollte das nicht mehr und genau aus dem Grund hatte ich damals den Beschluss gefasst nicht zurückzublicken und keine Träne mehr zu vergießen, nur weil irgendein Wichser dachte, mich benutzen und missbrauchen zu können. Ich wollte keinem die Genugtuung geben, mich gebrochen zu haben. Ich habe weitergemacht und mein Leben gelebt. Und das würde ich auch jetzt weiterhin tun.

big girls don't cryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt