Die Polizei hatte leider keine neuen Anhaltspunkte, was den Überfall betraf. Jeremy wollte den Beamten das Video aus dem Club weiterleiten, aber die Datei existierte aus irgendwelchen Gründen nicht mehr. Jemand musste es gelöscht haben. Es konnte auch nicht wiederhergestellt werden. Da hatte Jemand gewusst, was zu tun war, um seine Spuren komplett zu vernichten. Ich glaube, dass mein Fall bald zu den Akten gelegt werden würde. Es gab einfach keine weiteren Hinweise, keine Zeugen. Meine Handtasche wurde in einem Müllcontainer in der Nähe des Clubs gefunden, allerdings konnten auch hier keine verwertbaren Spuren gesichert werden. Sie hatten einen Abstrich von mir untersucht, das Sperma eines Mannes gefunden und versucht die DNA zu analysieren, aber das hatte letztlich auch nichts gebracht, da Jeremy nicht in der Datenbank gelistet war. Dass es Jeremys Sperma war, sagte ich ihnen nicht. Es musste auch niemand erfahren, da er nicht der Täter war. Der Vergewaltiger hatte offensichtlich ein Kondom getragen oder lediglich irgendeinen Gegenstand benutzt, um mich zu penetrieren und zu verletzen.
Ich war wieder zu Hause, fühlte mich aber nicht besonders wohl oder sicher, da ich nicht wusste, ob der Psycho nochmal zu mir kommen würde. Schließlich wusste er wo ich wohnte, wenn er es auf meinem Ausweis gelesen hatte. Ich würde mir eine andere Wohnung suchen. Jeremy hatte mir angeboten, dass ich bis dahin bei ihm bleiben könnte. Und ich war ihm sehr dankbar. Das Letzte, was ich wollte war es, jetzt alleine zu sein. Es war zwar nicht das erste Mal gewesen, dass ich vergewaltigt wurde, aber auf solch eine brutale Weise bisher noch nicht. Dieses Mal hatte es deutliche Spuren auf meiner Seele hinterlassen und damit musste ich irgendwie klar kommen. Ich hatte mich dazu entschlossen, die Selbsthilfegruppe aufzusuchen, die Officer Danilo, beziehungsweise Justin, leitete. Ich wollte ihn um jeden Preis wieder in meinem Leben haben.
Es war Mittwoch, später Nachmittag, wir saßen in einem Kreis. Es war eine bunt gemischte Gruppe, überwiegend Frauen, aber auch ein paar Jugendliche und zu meinem Entsetzen auch ein kleines Mädchen. Mein Herz zog sich bei ihrem Anblick schmerzhaft zusammen. Ich fühlte mich mal wieder in der Zeit zurückkatapultiert. Sie erinnerte mich an mich selbst, nur dass ich damals keine Hilfe hatte. Aber ich hätte auch nie jemanden erzählen können, was mit mir passiert war, was sie mit mir gemacht hatten, denn dazu schämte ich mich viel zu sehr.
Justin begrüßte uns alle mit einem: „Herzlich Willkommen zur heutigen Gruppenrunde. Ich möchte, dass sich jeder mit Namen und Alter vorstellt. Wenn ihr mögt, dann erzählt noch, wie es euch heute geht und ob ihr euch heute schon über irgendwas gefreut habt. Ich fange einfach mal an". Er räusperte sich kurz und fuhr fort: „Ich heiße Justin und bin 25 Jahre alt. Heute Morgen wurde ich durch ein paar Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht geweckt und hatte direkt einen guten Start. Ansonsten war es ein recht ruhiger und entspannter Tag". Nach und nach stellten sich die einzelnen Leute vor. Und jeder sagte etwas banales, etwas, das gut an dem Tag war, auch wenn ihnen bloß der Kaffee besonders gut geschmeckt hatte...
In der nächsten Runde ging es darum, unseren Lieblingsort zu beschreiben, wobei es auch ein Ort sein konnte, der nur in unseren Gedanken existierte. Das kleine Mädchen sprach gerade: „Ich stelle mir den Ort so vor. Es ist warm und es gibt ganz viele Blumen. Es ist ein schöner Ort, hier ist es ruhig, keiner schreit, keiner ist da, der mir Angst macht". Sie hatte dabei die Augen geschlossen und man konnte ihr ansehen, dass sie diesen Ort gerade tatsächlich vor sich sah. Sie wirkte entspannt und glücklich. Mich machte das ein wenig traurig.
Viele hörten einfach nur zu, niemand wurde gezwungen, etwas zu sagen. Auch ich sagte nichts weiter. Ich wollte erst einmal schauen, was das für Menschen hier waren, bevor ich anfangen würde mich vor allen zu öffnen, falls ich das jemals schaffen würde. Ich war mir da nicht sicher, ob ich das konnte. Ich hatte immer alles mit mir selbst ausgemacht, vieles einfach in mich reingefressen und verdrängt. Einfach aus meinem Gedächtnis verbannt, aber irgendwas war neulich in mir zerbrochen. Es drängten sich Erinnerungen und Gefühle wieder hoch, von denen ich dachte, sie luftdicht verpackt und verschlossen weggesperrt zu haben. Ich bekam manchmal regelrechte Panik und dann konnte ich nicht richtig atmen, bekam keine Luft.
Die Mauer, die ich errichtet hatte, die Fassade meines Schutzhauses, war wohl am Bröckeln, vielleicht war sie auch einfach nicht so stark und solide gewesen, wie ich geglaubt hatte. Vielleicht war sie bloß aus Glas gewesen, wie eine Fensterscheibe und ein feiner Riss genügte. Und die nächste Erschütterung würde das Glashaus zum Einsturz bringen. Ich hatte Angst, dass man meine wahren Emotionen sehen könnte, dass ich selbst sie sehen würde, hatte ich sie doch jahrelang einfach ignoriert und so getan, als wären sie gar nicht da. Ich habe mir selbst gesagt, es sei alles okay, es ginge mir gut. Doch ein Blick hinter die Fassade würde das Gegenteil zeigen.
Nachdem die Stunde vorbei war, verabschiedeten sich viele direkt und gingen. Ich wollte auch gerade in Richtung Ausgang laufen, aber Justin sprach mich an: „Angelina, es freut mich, dass Sie hier sind. Wie geht es Ihnen?". Scheiße war er förmlich. Ich wünschte, wir könnten einfach wie zwei Freunde miteinander reden, aber davon waren wir wohl meilenweit entfernt. „Hey... ja. Ich komme klar, alles gut, danke", antwortete ich ihm. „Sie waren sehr still heute, vielleicht fällt es Ihnen nächste Woche leichter, sich der Gruppe anzuvertrauen. Es hilft oft, einfach über das zu sprechen, was Sie fühlen", wollte er mich ermuntern und aufbauen. Er war einfach immer schon der geborene Helfer gewesen. Vielleicht fühlte ich mich deswegen so zu ihm hingezogen und er sich damals zu mir. Wir waren eigentlich ziemlich perfekt füreinander. Er wollte helfen und mir musste geholfen werden.
„Ist nicht so einfach. Aber ja vielleicht geht es nächstes Mal besser", ich klang wenig überzeugend in meinen Ohren. Mir kam eine Idee. „Bieten Sie auch Privatstunden an?", fragte ich ihn einfach. „Eigentlich nicht, aber ich könnte Ihnen jemanden empfehlen, einen Psychologen...", setzte er an. „Nein!...", das war vielleicht ein bisschen heftig rübergekommen, „Nein danke, aber ich glaube nicht, dass ich mit einem Psychodoc reden könnte. Bei Ihnen habe ich ein so gutes Gefühl. Würden Sie für mich eine Ausnahme machen?". Ich setzte dabei meinen traurigsten Hundeblick auf. Ich hoffte einfach, dass er nicht widerstehen können würde. Das fiel ihm schon immer schwer, einfach "Nein" zu sagen, besonders zu mir. Seufzend fuhr er sich durch die Haare, ich wusste, dass ich ihn hatte, setzte aber noch ein „Bitte, Justin" hinterher. „Na gut, ausnahmsweise", gab er sich schließlich geschlagen.
„Oh, danke! Da bin ich jetzt erleichtert... Wann können wir anfangen? Morgen Abend?". „Ja, das geht. Kommen Sie einfach morgen um 18 Uhr wieder hier her, okay?", antwortete er. „Gut, machen wir so. Danke! Bis morgen dann", verabschiedete ich mich. Und freute mich, ihn morgen wiederzusehen.
DU LIEST GERADE
big girls don't cry
Mystery / ThrillerDas Leben ist eins der Härtesten. Für Angelina ganz besonders. Sie hat für ihr Alter bereits zu viel erlebt. Doch was dich nicht tötet, macht dich stärker, sagt man. Eines hat sie sich geschworen, sie würde nie wieder weinen. Denn große Mädchen we...