Zwölf

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„Angelina, Sweety", Jeremys Stimme und seine Berührung in meinem Nacken waren ganz sanft, als er mir die Haare aus meinem Gesicht hielt, aber ich versteifte mich trotzdem direkt. Ich musste erneut würgen, aber es war nichts mehr in mir drin, was raus konnte. Ich sackte erschöpft auf der Klobrille zusammen, fühlte mich so unglaublich schmutzig und ekelig. Ich heulte hysterisch. „Was ist los?", fragte er besorgt. Ich schüttelte seine Hände sanft, aber bestimmt von meinem Körper ab. Konnte es gerade nicht ertragen angefasst zu werden. Ganz langsam und zitternd stand ich auf, betätigte die Klospülung und ging zum Waschbecken. Ich wusch mein Gesicht und meinen Mund.

Ich hatte das Gefühl, dass mir gleich der Boden unter den Füßen wegsacken würde. „Jeremy...", fing ich an mit kratzender Stimme zu sprechen, kam aber nicht weiter. Das Kribbeln in meinen Händen und Füßen wurde stärker und langsam sah ich Sternchen vor meinen Augen. Meine Beine fühlten sich an wie Fremdkörper, sie knickten einfach weg, als wären sie aus Wackelpudding. Ich spürte noch Jeremys starke Arme, die mich auffingen, bevor ich auf dem Fußboden aufschlagen konnte.

Meine Augen öffneten sich ganz langsam, ich schirmte mein Gesicht sofort mit den Händen gegen die Helligkeit ab. Es half aber nicht viel gegen das Dröhnen in meinem Schädel. Ich fühlte mich als hätte mich ein Zug überrollt und auch die Übelkeit war nach wie vor in meinem Magen überdeutlich zu spüren. Ich sah aus dem Fenster, so hell war es eigentlich gar nicht. Draußen schien die Welt unterzugehen. Es regnete Bindfäden und ich konnte das Donnergrollen hören. Die Hitze der letzten Tage war also einem Gewitter gewichen. Ich rollte mich wie ein Embryo zusammen und hoffte, dass mich einfach ein Blitz treffen würde. Dann wäre mein jämmerliches Dasein vorbei. Ich seufzte.

„Du bist ja wach, Sweety", sagte Jeremy ganz leise neben mir. Ich drehte mich zu ihm um und schaute in sein ernstes Gesicht. „Wie geht es dir?", fragte er mitfühlend. „Komme mir vor wie dreimal verdaut und wieder ausgekotzt", erwiderte ich gequält lächelnd, „Jeremy, es war jemand hier und das habe ich mir nicht eingebildet". Und schon liefen mir wieder diese verdammten Tränen übers Gesicht. Jeremy schaute mich geschockt an und ballte seine Hände zu Fäusten. „Verdammt, was ist passiert?". Ich fing wieder an zu zittern und erzählte ihm von meiner nächtlichen Begegnung im Bad.

„Ich muss Justin anrufen", sagte ich, nachdem ich wieder halbwegs klar denken konnte. Ich stand auf und wühlte in meiner Tasche nach dem Handy. „Was willst du ihm denn sagen?", fragte Jeremy skeptisch, „Der Typ hat keine Spuren hinterlassen, soweit ich das sehe. Hat sich unbemerkt rein und wieder rausgeschlichen. Vielleicht sollten wir ein paar Tage mal aus der Stadt verschwinden. Untertauchen, oder direkt auswandern?" Ich verstand, was er meinte und ich zögerte kurz, bevor ich Justins Nummer auswählte. „Aber dennoch, wäre es nicht ratsam, die Polizei trotzdem zu informieren?", ich war einfach unsicher. „Selbst wenn sie nichts finden, aber... ich weiß auch nicht. Vielleicht können sie ja eine Streife schicken, die die Wohnung beobachtet", überlegte ich.

Wenig später war Justin mit einem Spurensicherungsteam vorbeigekommen. Wie schon befürchtet, gingen sie mal wieder ohne irgendwas zu finden. „Ich werde dafür sorgen, dass du rund um die Uhr beschützt wirst. Wenn nötig, dann passe ich selbst auf dich auf", sagte Justin ernst. Er nahm mich in den Arm. Ein Räuspern brachte uns wieder auseinander. „Ich muss jetzt los zur Arbeit. Und ich will mit meinem Boss sprechen, dass ich ein paar Tage Urlaub bekomme. Du kannst dir schon mal ein Reiseziel überlegen", meinte Jeremy. Ich lächelte ihn an. So langsam gefiel mir die Idee immer besser mal raus zu kommen. „Danke, Jeremy. Das mache ich", antwortete ich und ging zu ihm rüber. Jeremy legte seine Hände um mein Gesicht und beugte sich zu mir runter. Ich befürchtete schon, er wollte mich demonstrativ vor Justin auf den Mund küssen, aber stattdessen trafen seine Lippen weich auf meine Stirn. „Bis später, Sweety", verabschiedete er sich.

„Es ist tatsächlich gar keine schlechte Idee. Ein bisschen Abstand würde dir sicher guttun", holte mich Justin wieder zurück in die Gegenwart. „Ja, bestimmt. Jetzt möchte ich aber erstmal noch wo hin... Begleitest du mich? Das ist doch jetzt deine Aufgabe oder, solange ich noch keinen Personenschutz zugeteilt bekommen habe?!", fragte ich ihn mit den Wimpern klimpernd. „Klar, mache ich das. Wo willst du denn hin?", stellte er die Gegenfrage. „Zur St. Marys Church", sagte ich schlicht. „Was hat es mit diesem Ort eigentlich auf sich? Ich habe dich eigentlich nicht so sonderlich religiös eingeschätzt", meinte Justin mit einem leichten Schmunzeln. „Hey, werde mal nicht frech!", erwiderte ich gespielt entrüstet, „Ich bin sicherlich keine Heilige... Aber ich glaube an etwas Höheres. Ob es Gott gibt, weiß ich nicht, aber falls ja, dann hat er mir schon öfter geholfen"

Flashback

Pater Franklin hatte angeboten mir einen Platz auf der Klosterschule der Abbey of Regina Laudis zu organisieren. Er hätte da Kontakte, die er spielen lassen könne, erklärte er mir, denn seine Schwester sei dort die Priorin. Was genau das bedeutete, wusste ich zwar nicht, aber scheinbar hatte sie was zu sagen. „Es ist ein recht abgelegener Ort, wenig äußere Ablenkung und es gibt hohe Sicherheitsvorkehrungen. Du kannst dort wohnen und deinen Schulabschluss machen, allerdings gibt es eine Regel. Jungsbesuche sind strengstens verboten. Du wärst dort definitiv sicher", sagte er, „Denk darüber nach und sag mir Bescheid. Ich rufe gerne für dich bei der Foster-Care Leitung an und kläre alles".

Ich wusste bereits, dass ich gerne auf dieses Internat gehen wollte. Sicherheit war alles, was ich mir wünschte und einen Platz an dem ich längere Zeit bleiben können würde. Meinen Schulabschluss könnte ich mit etwas Glück in drei oder vier Jahren machen. Ich hatte viel Schulunterricht verpasst in den letzten Monaten, seitdem ich bei den Donovans gewohnt hatte. Sie hatten mich geschlagen, manchmal so stark verprügelt, dass ich tagelang nur im Bett lag. Er hatte mich außerdem als Sexobjekt angesehen, wenn seine Frau nicht da war. Und beide hielten mich wohl für eine Art Haussklavin, denn ich musste putzen und kochen, da war nicht viel Zeit für die Schule geblieben. Alles, was ich in der Schule verpasst hatte, würde ich jetzt nachholen müssen, aber ich würde das mit großer Freude tun, solange das bedeutete, dass ich an diesem sicheren Ort bleiben durfte.

„Pater, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gerne ich auf diese Schule möchte. Da brauche ich nicht lange überlegen und danke schon mal für Ihre Bemühungen", sagte ich schließlich. „Okay, dann werde ich das für dich regeln", erwiderte er freundlich, „Wenn du möchtest, dann können wir heute hinfahren und ich zeige dir schon einmal alles. Vielleicht kannst du sogar in einem Gästezimmer untergebracht werden, bis du in ein eigenes Zimmer ziehen kannst". „Oh das wäre so schön!", rief ich erfreut aus.

Ich erinnerte mich gerne an diesen Nachmittag zurück. Es war der Anfang einer Zeit, die zwar nicht nur gute Erinnerungen barg, aber doch größtenteils positiv war. Ich hatte zu mir gefunden und dort Unterstützung bekommen. „Weißt du, Justin, ich habe damals mein altes Leben hinter mir gelassen und dazu hast du leider auch gehört. Aber es war so viel los, ich hatte Schuldgefühle wegen Mason und... naja ich war froh nochmal neu anfangen zu können", weiter wollte ich jetzt noch nicht gehen, dazu war ich noch nicht bereit. „Ich kann dich verstehen, du hast viel durchgemacht. Umso mehr freue ich mich, dass du dich mir gegenüber öffnen kannst. Ich wäre auch damals gerne für dich da gewesen, aber dass ich es jetzt sein kann, ist mir viel Wert", sagte Justin. „Und ich danke dir dafür!", erwiderte ich. „Und danke, dass du mich hierher gefahren hast", meinte ich und bekräftigte meine Aussage mit einer kurzen Umarmung. „Kein Problem, Kleine", antwortete er, „Ich werde hier draußen auf dich warten. Lass dir Zeit bei deinem Gespräch mit Gott... oder was auch immer du da drinnen tust". Wir mussten beide schmunzeln und ich verließ seinen Wagen.

big girls don't cryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt