Ich wachte auf, es war früh am Morgen. Justin schlief noch, sein Arm lag schwer auf meinem Bauch. Ich hatte Kopfschmerzen und ich musste hier unbedingt raus. Es war gerade alles zu viel für mich. Die Erinnerungen an Mason hatten mich so aufgewühlt, ich wollte jetzt lieber alleine sein. Brauchte einen Moment für mich, um wieder runterzukommen. Langsam hob ich Justins Arm von mir runter und stand leise auf. Er murrte kurz, drehte sich um, wachte aber zum Glück nicht auf. Ich schnappte mir meine Kleidung und ging ins Bad, wo ich mich schnell fertig machte. Ich nahm meine Tasche und ging.
Draußen vor dem Haus atmete ich einmal tief ein und aus. Ich liebte es morgens draußen zu sein, die Luft war einfach frischer. Ich wendete mich der Sonne entgegen und ging los. Als ich merkte, wo ich hinlief, beschleunigte ich etwas und stand wieder dort, wo sich alles für mich änderte. Dieses Mal zum Guten. Ich hatte ein neues zu Hause bekommen, Hilfe, doch leider hatte ich Justin verloren. Ich stieg wieder die Stufen hoch, das Portal stand offen, als wollte es mich Willkommen heißen. Ohne zu zögern ging ich hinein. Drinnen hielt Pater Franklin gerade die Morgenandacht, es waren nur wenige Personen in den Bankreihen. Leise setzte ich mich in eine der hinteren Bänke, senkte meinen Kopf. Ich faltete die Hände und lauschte den andächtigen Worten des Paters. Sie hatten eine beruhigende Wirkung auf mich.
Flashback
Der Pater quartierte mich für diese Nacht in einem kleinen Zimmer neben der Kirche ein. Er sagte mir ich könnte bis Morgenfrüh hier bleiben und mich ausruhen. Nach der Morgenmesse würden wir darüber reden. Er ließ mich allein und ich setzte mich auf das schmale Bett. Betrachtete den kargen Raum. Viel zu sehen gab es nicht, es war bloß das Bett und ein Schreibtisch, über dem Bett war ein Kreuz angebracht. Ich stand auf und berührte es mit einem Finger, fing an über mein Leben nachzudenken. Ich war noch nie zuvor in einer Kirche und ich hatte keinen Grund überhaupt an irgendwas zu glauben. Meine Eltern, oder vielmehr meine leibliche Mutter, hatte mich nicht gewollt, sie hatte mich einfach ausgesetzt, auf einer Parkbank abgelegt, nahe des Hudson-River, entsorgt, als wäre ich bloß ein Stück Müll. Hätte mich nicht jemand gefunden und hätte mich in ein Krankenhaus gebracht, wäre mein kurzes Leben damals schon zu Ende gewesen.
Das Leben schien es nicht besonders gut mit mir zu meinen. Ich wurde immer wieder von Pflegeheim zu Pflegefamilie weitergereicht. Ich war ein trauriges Kind, war immer still und sprach nicht viel. Das war einer der Gründe, warum ich nie adoptiert worden war. Es fiel mir schwer Leute an mich ranzulassen und konnte keine Beziehung zu ihnen aufbauen, ich vertraute niemandem. Ich hatte keine Familie, niemand wollte mich und die, die mich betreuten waren nicht sonderlich nett zu mir. Viele nahmen mich nur bei sich auf, weil sie Geld vom Staat dafür bekamen. Schließlich und letztlich hatte ich es satt, weitergereicht zu werden. Ich war müde, wollte zur Ruhe kommen, meinen Frieden finden. Vielleicht konnte mir Gott dabei helfen, auch wenn ich nicht wusste, wie.
Ich legte mich hin und faltete die Hände. Mein Blick ging in Richtung des Kreuzes und ich fing an zu beten. Ich wusste nicht, wie man das macht, aber ich fing einfach an zu sprechen. „Lieber Gott, ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Bitte hilf mir. Ich weiß, du kennst mich nicht, ich war noch nie in der Kirche und ich habe noch nie gebetet. Aber bitte, lass mich nicht allein". Mir liefen wieder mal Tränen runter, sie tropften auf das Kissen. „Ich habe heute zwei Menschen verloren. Den einen habe ich verlassen. Ich muss ihn vor mir schützen, ich bin eine wandelnde Katastrophe. Ich bringe nur Unglück und das hat er nicht verdient... Der andere... wird nie wieder zurückkommen. Oh Gott... ich habe ihn umgebracht", meine Stimme war nicht mehr als ein leises Flüstern, nur ein leiser Windhauch. „Er ist meinetwegen tot. Wie soll ich damit leben? Warum passiert mir das? Wenn du da bist, bitte hilf mir".
Und mein Gebet wurde erhört. Ich sollte Hilfe bekommen. Das Läuten der Glocken zur Morgenmesse hatte mich geweckt. Ich blieb noch etwas liegen, schließlich stand ich aber auf, machte mich frisch und ging in die Kirche. Ich wollte sehen, wie der Gottesdienst war. Leider bekam ich nur noch das Ende mit. „...Aber der christliche Glaube ist einer, der Menschen frei macht, ihnen hilft, ihren Verstand zu gebrauchen, ihr Herz in die Hand zu nehmen, um tapfer ihr Leben zu gestalten. Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, halte unseren Verstand wach, unsere Hoffnung groß und stärke unsere Liebe zueinander. Die Kraft der Liebe endet nie, denn Gottes Liebe ist unendlich.", er sprach Worte, die mich in meinem innersten berührten. „Gott der Liebe segne uns, dass wir dich sehen auf den Gesichtern der Menschen, dass wir dich hören in den Worten derer, die mit uns sprechen, dass wir dich spüren, wenn wir Gutes erfahren und Gutes tun".
Der Pater hob seine Arme und sprach: „Es segne euch der allmächtige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist". Dann machte er eine kreuzförmige Bewegung mit dem rechten Arm. Die Gemeinde sprach ein „Amen". Ich bekam eine Gänsehaut, ich war beeindruckt. Warum war ich vorher nie in der Kirche gewesen? „Nun gehet hin in Frieden", entließ Pater Franklin die Gemeinde. Es waren nur eine Handvoll Leute im Gottesdienst gewesen, sie erhoben sich, bekreuzigten sich bevor sie aus der Kirche gingen. Ich trat ein wenig zur Seite, um ihnen Platz zu machen, ich war einfach im Eingang stehen geblieben.
„Guten Morgen, Angelina. Wie geht es dir heute?", Pater Franklin hatte mich entdeckt und kam durch den Mittelgang auf mich zu. Ich trat ebenfalls ein paar Schritte in seine Richtung. Wir setzten uns in eine der Bänke. „Sie haben da wirklich schöne Worte gesprochen. Das hat mich bewegt", setzte ich an, beantwortete seine Frage nach meinem Befinden lieber nicht. Ich war einfach noch so aufgewühlt, ich wusste nicht genau, was ich fühlte, aber ich hatte das Gefühl, dass ich hier geborgen war. „Das freut mich. Magst du mir erzählen was los ist? Vielleicht kann ich dir helfen", sprach er ruhig. Ich wusste nicht, ob ich ihm sagen sollte, was passiert war, aber ich wollte ihm zumindest meine Lage erklären.
„Ich bin im Foster-Care System. Das will ich nicht mehr. Ich bin es leid immer wieder von Familie zu Familie weitergereicht zu werden. Mir geht es nicht gut, es ist was passiert und ich kann nicht mehr zurück. Ich möchte auch nicht wieder zurück. Ich würde so gerne irgendwo leben und sagen können, ich bin angekommen, ich hab Frieden gefunden, mich geborgen fühlen. So wie hier...", ich sprach einfach das aus, was mich gerade bewegte. Ich sah den Pater an, er hatte mir einfach aufmerksam zugehört. Er nickte. Er legte mir behutsam eine Hand auf die Schulter und sagte: „Ich möchte dir helfen, Angelina, deswegen biete ich dir jetzt etwas an. Denk darüber nach und sag mir dann Bescheid", er entfernte seine Hand von mir und faltete dann seine Hände und legte sie auf seinen Beinen ab.
Die Vibration meines Handys riss mich aus meiner Erinnerung. Justin war aufgewacht und fragte, wo ich bin. Ich schickte ihm meinen Standort. So brauchte er sich keine Sorgen machen. Er schrieb mir, dass er mich abholen würde. Vielleicht könnten wir heute etwas Schönes zusammen unternehmen. Die Sonne vorhin versprach einen warmen Tag und ich wollte zum Meer. Ich hoffte Justin würde mit mir dorthin kommen.
„...Der Herr segne dich und mache die Wege hell, die er dich führt. Er lasse dich seine Nähe spüren, wenn du dich ängstigst und öffne deine Augen und dein Herz für die Freude und für die Menschen, die er dir schenkt", sprach der Pater. Ich sah nach vorn, er sprach mal wieder Worte, die mich direkt in meine Seele trafen. Seine Augen begegneten meinen, etwas blitzte in ihnen auf. Er fing an zu lächeln. „Gott segne dich und behüte dich, er lasse sein Licht leuchten über dir und mache dich heil. Keinen Tag soll es geben, an dem du sagen musst: Niemand ist da, der mich hält". Er hatte es in meine Richtung gesagt. Ich nickte ihm zu, bekreuzigte mich und ging raus.
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big girls don't cry
Mystery / ThrillerDas Leben ist eins der Härtesten. Für Angelina ganz besonders. Sie hat für ihr Alter bereits zu viel erlebt. Doch was dich nicht tötet, macht dich stärker, sagt man. Eines hat sie sich geschworen, sie würde nie wieder weinen. Denn große Mädchen we...