Ich saß mittlerweile etwas unsicher auf meinem Bett, da ich nicht wirklich wusste, was ich machen sollte. Ich hatte bisher noch nicht ausgepackt, weil ich nicht die Ordnung meiner Mitbewohnerin durcheinanderbringen wollte, es gab zwar zwei Kleiderschränke in diesem Zimmer und der neben dem unbenutzten Bett musste dann wohl meiner sein, aber wer wusste, welche Ticks sie hatte. Ich hätte zwar das Gebäude erkunden gehen können, aber irgendwie traute ich das meinem Orientierungssinn nicht wirklich zu.So saß ich also hier und schaute aus dem Fenster, aus welchem ich auf eine Rasenfläche blicken konnte und hohe Bäume, welche sich in ein Waldstück verdichteten.
Ich holte das Buch aus meiner Tasche, welches ich momentan las und nahm mir so vor, die Zeit zu vertreiben, wobei es sicherlich auch komisch wirken musste, wenn die Neue einfach auf dem Bett saß und etwas las. Ich war kurze Zeit später in dem Geschehen meines Buches gefangen und fand erst wieder in die Realität zurück, als ein Kratzen in dem Türschloss und ein helles Lachen von dem Gang signalisierte, dass sich anscheinend jemand Einlass in das Zimmer verschaffen wollte.
Ich holte tief Luft, denn nun würde ich wohl meiner neuen Zimmergenossin gegenübertreten.
„Verdammt, warum geht das nicht", hörte ich eine Stimme dumpf durch die Tür schimpfen, wonach ein Tritt gegen die Tür mich zusammenzucken ließ.
Ich sah, wie die Türklinke mehrmals heruntergedrückt wurde und an der Tür gerüttelt wurde. Ich erhob mich langsam und schlich zu der Tür.
Alles okay, Joleen. Dich kennt hier keiner. Dies ist deine Chance auf einen Neuanfang.
Ich drückte langsam die Klinke herunter, woraufhin ich die Tür öffnete und zwang mir ein Lächeln auf meine Lippen. Vor mir stand ein Mädchen, welches etwas größer als ich war, was auch nicht wirklich schwer war. Ihr Haar stand strubbelig ab, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen und ihre karamellfarbenen Augen funkelten böse die Tür an, oder besser gesagt die Stelle, wo eben noch die Tür war.
„Hey", sagte sie überrascht, „sorry, ich wollte dich nicht stören. Bist du meine neue Zimmergenossin?"
„Wenn dies dein Zimmer ist, dann ja", bestätigte ich, denn vielleicht war dieses Mädchen auch gar nicht meine Mitbewohnerin, sondern nur jemand, die sich an der Tür geirrt hat, was den nicht passenden Schlüssel erklären würde.
„Ist es ganz sicher, denn das da ist meine Bettwäsche, niemand sonst hat so eine coole Bettwäsche von Star Wars", grinste sie und ich musste schmunzeln, da ich diese Bettwäsche bereits ausgiebig studiert hatte, weil ich Star Wars liebte und weil ich eben nur auf meinem Bett gesessen habe, „ich bin Cassandra, aber nenn mich Cassy."
Sie streckte mir ihre Hand entgegen, welche ich schüttelte: „Ich bin Joleen."
Ich trat etwas zurück, sodass sie auch hereinkommen konnte, schließlich war dies anscheinend wirklich ihr Zimmer.
„Freut mich", meinte sie, „ich habe keine Ahnung, warum mein Schlüssel nicht gepasst hat."
„Hast du eventuell einen falschen Schlüssel benutzt", fragte ich sie und hoffte, dass sie es nicht als eine Beleidigung aufnahm, dass ich ihr so etwas unterstellte.
Sie kramte in ihrer Hosentasche und betrachtete den Schlüsselbund in ihrer Hand, dann stöhnte sie auf, während sie sich gegen ihre Stirn haute: „Du hast recht! Ich habe den Briefkastenschlüssel von zuhause genommen. Du bist ein Genie!"
Ich musste lächeln und drehte mich peinlich berührt zu meinen nicht ausgepackten Sachen um.
„Sag mal, hast du noch nicht ausgepackt", brabbelte Cassy einfach weiter, denn augenscheinlich hatte sie einen großen Redebedarf, „ich kann dir helfen, wobei ich dich auch herumführen könnte, die Anlage ist super, aber es gibt gleich auch Essen, weshalb auspacken wahrscheinlich besser wäre."
Wie sie so viel reden konnte, ohne überhaupt Luft zu holen, war mir ein Rätsel.
„Auspacken klingt gut", antwortete ich, „ich wusste nicht genau, was ich belegen darf und was nicht."
„Na alles", sprach sie begeistert, „das ist schließlich dein neues Heim, da sollst du dich auch wohlfühlen. Solange ich auch meine Sachen irgendwo verstauen kann, ist alles gut. Aber mein Kleiderschrank wird eh die meiste Zeit halb leer sein, weil sich alles auf meinem Stuhl ansammeln wird."
„Okay", lächelte ich und öffnete meinen Koffer, während Stille aufkam, „ich mag deine Bettwäsche übrigens."
Ich kam mir so dumm vor, mich mit Komplimenten bei ihr einzuschmeicheln, auch wenn diese der Wahrheit entsprachen. Für die meisten war dies sicher keine große Sache, aber mir verlangte es unglaublich viel ab.
„Danke", freute sie sich, „ich habe noch total viele andere von Filmen oder Serien, also stell dich schonmal darauf ein."
„Mir macht das nichts", wehrte ich ab und fing an, meine Bücher, welche ich mitgenommen habe, auf dem Regal über meinem Schreibtisch abzustellen.
„Meine alte Mitbewohnerin hat sich davon doch tatsächlich gestört gefühlt, weil es ihre Chakren durcheinandergebracht hätte oder so", erzählte Cassy, während sie mir meine Bücher anreichte, sodass ich nicht hin und her laufen musste, „ich bin echt froh, dass ich mein Zimmer wechseln konnte und dann sofort so eine coole Mitbewohnerin bekommen habe."
Darauf wusste ich nicht, zu antworten. Wie konnte sie so schnell über mich urteilen? Sie wusste doch gar nichts über mich. Nicht über mein Leben, meine Familie, meine Hobbys, meine Vergangenheit.
Die nächste Zeit plauderte sie pausenlos weiter, was mir ganz gelegen kam, denn so war ich nicht gezwungen, die Konversation abzuwürgen. Mein Gepäck war wenig später fertig ausgepackt und eingeräumt und wir waren auf dem Weg zu dem Abendessen. Der Raum, wo wir essen würden, befand sich wieder in dem Erdgeschoss und auf dem Weg dorthin liefen auch andere zu demselben Ziel. Die meisten hatten gemütliche Anziehsachen wie Jogginghosen an, also schien es, für den Abend etwas entspannter zu sein, aber das mochte auch nur so sein, wenn der Unterricht noch nicht angefangen hat.
Ich folgte Cassy zu dem Raum und auch zu dem Buffet, welches sich uns bot. Es gab sowohl kaltes Essen wie Brot, Brötchen mit Aufstrich und Salat, aber auch warme Speisen, welche wohl meistens dieselben waren wie mittags, wenn etwas übrig blieb, was ich jedoch nicht wirklich schlimm fand, denn so wurde das Essen immerhin nicht achtlos weggeschmissen.
„Was möchtest du haben", fragte Cassy mich und schaute mich erwartungsvoll an.
Ich wich ihrem Blick sofort aus und betrachtete den höchstinteressanten Orangensaft: „Ich würde etwas Warmes essen wollen."
„Ich auch", freute sie sich, „irgendwie esse ich meistens zwei Mal warm, ich weiß gar nicht wirklich warum."
Ich musste lächeln: „Das mache ich auch meistens:"
So liefen wir zu den warmen Speisen und ich lud mir Nudeln mit einer Hackfleischsauce auf, dazu nahm ich mir allerdings noch einen kleinen Schokoladenvla. Cassy schaufelte unterdessen Unmengen an Kartoffelgratin auf ihren Teller. Entweder hatte sie großen Hunger oder das Gratin musste verdammt gut schmecken.
Wir setzten uns an einen Tisch mit fünf Stühlen, welche jedoch alle nicht besetzt waren. Dort fing ich schweigend an, mein Essen zu essen.
„Hey, du bist doch das Koffermädchen von der Treppe", ertönte plötzlich eine Stimme neben unserem Tisch und schnitt Cassy das Wort ab, welche mir etwas über die Ästhetik von Gartenzwergen erzählte.
Ich schaute leicht nach rechts, um zu sehen, wer dort mit uns sprach, doch es war mir auch so klar. Sogar bevor ich dieses Paar schwarze Sportschuhe erblickte.
DU LIEST GERADE
Über das redenswerte Schweigen
Teen FictionEs sollte ihr Neuanfang sein. Fernab von all dem, was bisher ihr abscheulicher Alltag war. Ein neuer Lichtblick, eine neue Chance. Sofort als die verschlossene Joleen ihr neues Heim erkundete, welches zugleich ihr Schulinternat sein würde, purzelte...