Ich studierte den Plan des Gebäudekomplexes bis in das letzte Detail, obwohl ich das alles schon viele Male zu oft angeschaut hatte. Denn es gab nichts mehr, was ich mir nicht längst eingeprägt habe. Cassy und Mason waren schon wieder verschwunden und ehrten ihre Traditionen, während ich überlegte, was ich nun machen sollte. Letztendlich wurde mein Blick doch zu der Bibliothek gezogen, welche an dem anderen Ende des Gebäudes sein sollte. Also beschloss ich kurzerhand, dorthin zu gehen.Ich steckte meinen Zimmerschlüssel in eine Hosentasche meiner Leinenhose, welche leger aussah, aber nicht etwa wie eine Jogginghose wirkte. Mein momentanes Motto war casual chic. Okay, es mochte sein, dass ich für andere aussah wie ein Kartoffelsack, aber ich fand, dass ich gebildet aussah. Und Gemütlichkeit hatte für mich Priorität.
Ich irrte mehr oder weniger durch die Gänge, welche eigentlich gar nicht so recht verwinkelt waren und schielte immer wieder auf die Karte, welche ich mit meinem Handy abfotografiert hatte, da ich nicht wie ein ahnungsloser Neuankömmling wirken wollte, wobei mich dies recht gut beschrieb.
Schließlich hielt ich vor einer hölzernen Tür an, welche von Ornamenten geschmückt war. Der Türknopf war ein wunderschöner Drache, der fein ausgearbeitet war, und obwohl Zacken sein Antlitz bekräftigten, fügte sich meine Hand angenehm um den Knauf. Die Tür war schwer. Ich lehnte mich gegen sie, damit ich sie geöffnet bekam und ein leises Knarren ertönte, welches angenehm zu hören war, da es mehr einem rauen Summen des Windes glich als einer schrill quietschenden Feueralarmanlage. Von diesen Anlagen hatte ich bei aller Liebe genug.
Kaum dass ich den Raum betreten habe, musste ich vor Staunen kräftig schlucken, denn vor mir erstreckte sich ein wahres Paradies für Bücherliebhaber wie meiner Wenigkeit. Die Decke schien unerreichbar hoch in der Luft zu schweben und mehrere Emporen zeigten, dass diese Halle mehrere Stockwerke beherbergte. Es war wahrhaft unglaublich. Welch Arbeit in der Konstruktion gesteckt haben musste und auf welche Weise die Bücher wohl sortiert waren?
Mehrere Menschen hielten sich abgesehen von mir ebenfalls in der Halle auf, ob aufgrund ihres freizeitlichen Interesses, Pflichtlektüren oder Nachforschungen für Essays wusste ich nicht. Doch ich konnte deutlich spüren, dass Zufriedenheit in der Luft lag, vermischt mit Euphorie, auch wenn die eventuell nur von mir ausgehen mochte, ebenso wie Hektik aber zugleich auch Ruhe.
Ich ging auf eine Seite der Halle zu und nahm mir vor, nachzuschauen, was es hier alles für Literatur gab. Offenbar waren Lektüren für den akademischen Bereich und Freizeitlektüren auf verschiedenen Seiten des Saals gelegen, auch wenn gewiss manche Bücher in beide Kategorien eingeordnet werden konnten.
Ich strich liebevoll über alte, leicht zerfallene Bucheinbände und hätte nur zu gerne jedes Buch aufgeschlagen und den Geruch eingeatmet, aber das traute ich mich nicht, zu machen. Aber der Geruch alter sowohl wie auch neuer Bücher war einfach himmlisch. Einfach der Geruch von Büchern.
Ich fand viele neue Bücher, welche mein Interesse weckten. Ich nahm mir vor, wieder hierher zurückzukommen, um welche auszuleihen. Doch zunächst wollte ich meine Erkundungstour, wenn man sie so nennen konnte fortsetzen. Dass plötzlich ein Mädchen ihren Bleistift auf mich richtete und »Levicorpus« rief, schmiss mich schon etwas aus der Bahn, aber scheinbar war ich nicht der einzig anwesende Potterhead in der Bibliothek. Auch wenn ich mich fragte, warum sie mich kopfüber an der Decke hängen sehen wollte.
„Protego", meinte ich ernst und bemerkte, wie mich das Mädchen anerkennend aber auch unzufrieden anschaute und mir sofort wieder den Rücken zukehrte.
Warum auch nicht.
Kurz nachdem ich den Angriff abgewehrt habe und klargestellt habe, dass ich kein Muggel war, streifte ich über die Rasenfläche und steuerte auf das Waldstück zu. Dort atmete ich begierig den Geruch nach frischem Laub ein. Jedoch kamen mir zugleich gestrige Bilder hoch, wie ich an einen Baum gelehnt habe und nach Luft gerungen habe. Bisher waren mir Cassy und Mason nur offenherzig und aufgeschlossen begegnet und ich hoffte inständig, dass ich es nicht schaffte, sie von mir zu stoßen. Aber vielleicht waren sie nur solange nett und interessiert wie ich eine Neue war, welche sonst keinerlei Kontakte hatte.
Seufzend ging ich weiter und versuchte, meinen Kopf zu befreien, doch das war einfacher als gesagt. Meine Gedanken gaben keine Ruhe und begleiteten mich bei jedem zaghaften Schritt.
Als sich eine Kreuzung in mein Blickfeld schob hörte ich ein Rascheln und sich nähernde Schritte, weshalb ich stehenblieb, um nicht in der Kurve gegen jemanden zu laufen. Doch als ich sah, wer diese andere Person war, die alleine spazieren ging, wäre das Anrempeln doch eine gute Option gewesen und auch eine Revanche. Denn es war erneut der Junge, der mich an dem gestrigen Tag angerempelt hat.
Für einen kurzen Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke, doch er schaute sofort weg, ebenso wie dann auch ich und schon war er an mir vorbeigegangen. Er war wie ein Schatten, welcher an einem vorbeirauschte, aber einen erschaudern ließ. Warum er wohl hier herumlief? Er hätte mich schon grüßen können, wenigstens ein Nicken wäre nett gewesen. Andererseits habe ich auch nichts getan, als wie bestellt und nicht abgeholt auf einer Stelle zu stehen, während Brennnesseln mein rechtes Bein zum Jucken brachten. Und vielleicht hat er sich auch gar nicht an mich erinnert, schließlich war ich keine Person, die einen starken Eindruck hinterließ. Ich war die Art Person, die hinter einer Gruppe läuft, weil der Bürgersteig zu eng ist. Die Art Person, welche stehts fürchtete, vergessen zu werden, warum also sollte ich mich an Leute binden, wenn mir doch immer nur die Enttäuschung blieb?
Kurz stieg mir ein Duft in die Nase, welcher nicht aus dem Wald stammen konnte, es war vielmehr der Geruch des fremden Neuen, welcher wie ich alleine nach der Ankunft umherstreifte. Ob er das freiwillig tat? Hatte er schon Freunde gefunden? Mensch, warum machte ich mir überhaupt Gedanken über ihn? Ich musste weniger empathisch und sensibel sein und mehr an mich und mein Wohlergehen denken.
Ich schüttelte meinen Kopf, um den Unbekannten aus meine Kopf zu verdrängen, und setzte meinen kleinen Spaziergang fort. Durch die dichten Baumkronen, welche so aussahen, als würden sie nach der Nähe voneinander lechzen, fielen sanfte Sonnenstrahlen hinunter und ließen die Natur in all ihrer Pracht schimmern. Wenn man mit offenen Augen durch die unberührte Natur ging, konnte man so viel Schönheit und Geborgenheit spüren.
Ich musste lächeln, als ich ein kleines Rotkehlchen sah, welches mich aufgeregt anschaute. Gerade, als ich ihm sagen wollte, dass kein Grund zur Panik bestand, flog es schnell mit einem Zweig in seinem Schnabel davon. Es war frei und konnte schnell von alleine sein Ziel erreichen, schon beneidenswert.
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Über das redenswerte Schweigen
Teen FictionEs sollte ihr Neuanfang sein. Fernab von all dem, was bisher ihr abscheulicher Alltag war. Ein neuer Lichtblick, eine neue Chance. Sofort als die verschlossene Joleen ihr neues Heim erkundete, welches zugleich ihr Schulinternat sein würde, purzelte...