3 | Panische Unbeholfenheit und Bekanntschaften, die mich nicht leben lassen

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Ich wusste, dass es lächerlich sein musste, dass ich ungestört mein Essen essen wollte, wo ich doch hier war, um neue Bande zu knüpfen, doch ich wünschte mir gerade nichts sehnlicher, als das eben Erwähnte. Dass die Stimme des Jungen von der Treppe mit den schwarzen Sportschuhen auch noch so ungemein attraktiv klang, machte das alles nicht besser, denn er wirkte sich seiner selbst sehr sicher und ich war nun einmal das komplette Gegenteil von Selbstsicherheit.

Schnell schaufelte ich mir einen weiter großen Löffel von meinem Essen in meinen Mund, sodass ich einen guten Grund hatte, um dem Unbekannten nicht zu antworten, denn ich hatte gute Manieren. Meine Eltern haben immer viel Wert auf meine Tischmanieren gelegt und das fand ich ganz gut, immerhin wollte ich nicht wie eine ganze Schweineherde klingen oder nach dem Essen wie eine aussehen.

„Hey, Treppenmädchen! Sag mal, hörst du irgendwie schlecht", hakte der Sportschuhjunge nach und ich konzentrierte mich weiter auf das Kauen.

Ich war es nicht gewohnt, dass mir Fragen gestellt wurden, auf welche die Person, welche sie mir gestellt hat, eine Antwort hören wollte. Ich habe irgendwann gelernt, schlichtweg zu schweigen, damit das ganze Prozedere schneller von statten ging, aber auch wenn man versuchte, Mauern um sich herum aufzubauen, die Wörter trafen einen doch trotzdem immer und meist dort, wo es am meisten wehtat.

„Es tut mir leid", flüsterte ich beschämt, nachdem ich den Inhalt meines Mundes heruntergeschluckt habe.

In diesem Moment kam mir jedoch glücklicherweise Cassy zu Hilfe: „Jetzt lass sie doch erstmal in ruhe essen, sie ist erst vor ein paar Stunden angekommen."

Ich vernahm, wie sie sich von ihrem Stuhl erhob und den Unbekannten in eine Umarmung schloss. Die beiden mussten sich also gut kennen. Na wunderbar.

„Ich weiß", entgegnete Herr-»Warum lasse ich das Mädchen nicht einfach essen«, „ich habe ihr ja angeboten, den Koffer hochzutragen, aber sie wollte nicht."

Ich seufzte. Was war schon groß dabei, den Koffer selbst hochzutragen? Ich war eine emanzipierte, junge Frau, welche recht gut alleine zurechtkam. Okay, ich mochte vielleicht ein wenig jämmerlich ausgesehen haben, aber das tat doch nichts zu der Sache!

„Du hast den alleine hochgetragen", fragte meine Mitbewohnerin an mich gerichtet, „aber der hat doch Tonnen gewogen. Also ich nehme das Angebot des guten Masons hier immer liebend gerne an."

Ich hörte wie beide anfingen, zu lachen. Mason hieß er also. Nun hatte der Unbekannte mit den schwarzen Sportschuhen einen Namen. Ich nickte bestätigend und griff nach meinem Becher Wasser, um etwas zu trinken, da meine Kehle wie ausgetrocknet war, als jemand gegen den Tisch prallte und mir der Becher aus der Hand fiel. Die klare Flüssigkeit breitete sich schnell über den hölzernen Tisch aus und floss geradewegs auf Mason zu.

Das konnte hier gerade nicht passieren. Ich spürte, wie mein Puls anfing, zu rasen, und meine Atmung flacher wurde. Bilder schossen mir durch den Kopf und vernebelten mir meine Sinne. Ich musste hier weg.

„Es- Es tut mir leid", presste ich erstickt hervor und sprang schnell auf, um irgendwo Zuflucht zu finden, wo ich nicht von Menschen umgeben war, welche mich für jede meiner Handlungen verurteilten.

Ich rannte aus dem Gebäude hinaus zu dem kleinen Waldstück, welches ich zuvor aus dem Fenster meines neuen Zimmers gesehen habe. Dort stütze ich mich außer Atem gegen einen Baum und rang nach Luft. Doch ich konnte keine Luft inhalieren und ich wusste, was gerade mit mir geschah. Tränen fingen an, meine Augen zu erfüllen und ich versuchte verzweifelt wieder einen Atemzug zu machen, egal wie sehr es schmerzen sollte. Ich sammelte meine Kraft und atmete tief ein, was zwar nur ein Röcheln war, aber auch der Anfang der Regulierung meines Atems. Ich verweilte einige Zeit in dieser Position und ließ nicht zu, dass meine Tränen den Augen entflohen, denn ich war Herrin über meinen Körper.

Nur war dies die erste Panikattacke seit einer langen Zeit gewesen. Ich fuhr mir schlapp durch meine Haare und mir war klar, dass ich wieder in den Raum zurückgehen musste. Immerhin war ich von jetzt an die seltsame Neue, die aus dem Raum gerannt ist, weil sie einen Becher Wasser umgestoßen hat. Ich wischte mir ein letztes Mal über meine Augen, dann erhob ich mich, da ich mich gegen den Baum gelehnt habe, und ging zurück zu dem Gebäude.

Auf dem Weg holte ich noch schnell eine Packung Taschentücher, falls Masons Kleidung hinüber war oder ich den Tisch abtrocknen musste. Kaum als ich den Essenssaal wieder betreten habe, wäre ich am liebsten wieder umgekehrt. Es kam mir vor als würden alle Augenpaare auf mich starren. Es war dumm, dabei auf mein Gefühl zu hören, denn schließlich hob ich meinen Kopf nicht an. Ich kam mir von dem einen auf den anderen Moment ungemein fehl am Platz vor. Mit zitternden Beinen näherte ich mich wieder dem Tisch, von welcher ich eben weggerannt bin.

„Wo bist du eben einfach hingerannt", fragte Cassy laut und ich fühlte mich komplett schuldig und dumm zugleich, solch eine Szene gemacht, zu haben.

Ich schob wortlos die Packung Taschentücher zu Mason hinüber, welcher auch noch immer an dem Tisch saß. Nach dieser griff er auch.

„Und was will ich damit", bemerkte er und ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick zu ihm huschte.

Zum einen war ich einfach nur echt neugierig, wie er nun aussah, und zum anderen war ich verwundert, denn für mich erschien es, mehr als offensichtlich zu sein. Kaum, dass ich aufgeschaut habe, blickte ich auch schon in seine Augen. Man sagte, dass die Augen das Tor zu der Seele wären. Seine Augen waren so hell, dass sie mich fast durchbohrten, doch das Grau hatte es Geheimnisvolles an sich, als umgäbe ihn ein leichter Nebel, der sein wahres Ich vor der Außenwelt verbarg. Und obwohl diese Augen so undefinierbar zu mir blickten, schauten sie mich zugleich neugierig, verwirrt und mitfühlend an. Ich bemerkte, wie seine Mundwinkel nach oben zuckten und es schoss mir sofort durch den Kopf, dass ich ihn länger angeschaut habe, als ich es vorgehabt hat und als es üblich war.

„Ich habe den Becher umgestoßen und dich getroffen", erklärte ich und betrachtete meine Fingernägel.

„Nein", entgegnete er, „der Tisch wurde angestoßen, als du nach deinem Becher gegriffen hast und wenn du nicht sofort davongerannt wärst, hättest du mitbekommen, dass mich die liebe Cassandra hier nicht gerade sanft von meinem Stuhl gestoßen hat, anstatt wie jeder normale Mensch einfach das Wasser aufzuhalten."

Er schaute sie entnervt an, während sie ihre Arme vor der Brust verschränkte: „Was soll das jetzt heißen? Ich habe dich vor großem Unheil bewahrt."

Ich musste grinsen. Die beiden waren schon ein seltsames Gespann.

„Siehst du, ein Lächeln", meinte Mason anerkennend und wenn ich es richtig hörte auch zufrieden, „geht doch."

Ich stocherte weiter auf meinem Teller herum, doch nach essen war mir nicht mehr zumute. Ich musste mich eben bei meinem kurzen Aufenthalt in dem Wald sehr beherrschen, den Inhalt meines Magens auch dort zu behalten, denn ich war stärker geworden. Ich war nicht mehr das schwache und leicht beeinflussbare Mädchen.

„Das liegt sicherlich nur an deinem Hang zu dem Dramatischen", rügte Cassy ihn und verpasste ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf.

„Wofür war das denn jetzt wieder", beschwerte er sich und fasste sich überrumpelt an seinen Kopf, während Cassy zufrieden den letzten Bissen ihres Essens aß.

„Dafür, dass du mich Cassandra genannt hast", erklärte sie und Mason grinste.

Okay, zugegeben, eigentlich grinste er fast durchgehend. Das genaue Gegenteil von mir.

Er zwickte Cassy übertrieben in ihre Wange: „Ach, Cassandra, du weißt doch, wie sehr ich es schätze, dich aufzuziehen."

„Und du weißt, wie fest mein Tritt ist", lächelte sie zuckersüß.

Sie wirkten beide so unbeschwert und ich fragte mich, ob sie vergessen haben, dass ich hier bei ihnen saß. Viele mochten sich ausgeschlossen fühlen, doch ich war vollkommen zufrieden damit, sie zu beobachten. Auch wenn ich mich schuldig fühlte, ihre Dynamik aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ich fragte mich, wie lange sie sich wohl schon kannten und wie eng sie befreundet waren. Oder war da eventuell sogar mehr?

Sie kabbelten noch eine Weile weiter, bis sich Mason wieder zu mir wandte: „Nun aber wieder zu dir. Möchtest du mir jetzt verraten, wie du heißt, oder möchtest du weiterhin das Mädchen von der Treppe mit dem Koffer bleiben?"

Über das redenswerte SchweigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt