16 | Ein Blick in die Vergangenheit

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Es war der nächste Morgen und ich saß auf meinem Platz in dem Klassenzimmer. Der Unterricht sollte in einer Minute beginnen, weshalb Cassy und Mason auf ihren Plätzen saßen, wo sie miteinander tuschelten, während ich alleine die Sekunden herunterzählte.

Kaden war noch nicht da. Wahrscheinlich würde er wieder gerade so pünktlich kommen, wenn er von dem gestrigen Tag nichts gelernt hatte.

Während ich den Endspurt in dem Herunterzählen der Sekunden erreicht hatte, wurde mein Blick prompt auf die Tür gezogen, durch welcher mein Sitznachbar in den Raum ging, als der Zeiger erneut umsprang und nur noch acht Sekunden verblieben waren. Mein Blick blieb auf ihm haften, wie er, ohne irgendwo richtig hinzuschauen, einfach zu unserem Tisch ging und sich dann neben mich fallen ließ.

Unser Mathelehrer schloss dir Tür, um mit dem Unterricht anzufangen, doch ich war mit meinen Gedanken, welche soeben noch voll fokussiert waren, in das Jenseits abgedriftet. Sollte ich Kaden einen guten Morgen wünschen? Immerhin hatten wir gestern kurz miteinander gesprochen.

Ich verwarf den Gedanken jedoch sofort, weil zum einen der Unterricht begann und zum anderen dachte ich mir, dass er schließlich auch zuerst grüßen könnte, wenn er wollte.

Leise seufzend machte ich mich an die Arbeit und öffnete meinen Collegeblock. Ich verfolgte ein System, mit welchem es mir ermöglichte, während des Unterrichts nicht auf die Ästhetik, sondern die Effizienz meiner Notizen zu achten. So fasste ich sie bei Zeiten zusammen und schrieb sie neu in einem Heft auf, welches für jeden Kurs ein anderes war.

Neben mir schrieb auch Kaden die Matrizen von der Tafel auf ein loses Blatt Papier ab. Dabei blickte er stets auf, wenn der Lehrer etwas an der Tafel ergänzte und gleichzeitig erklärte, und hörte ihm aufmerksam zu. Als ich bemerkte, dass ich mit meinen Gedanken etwas von dem Unterricht abgeschweift war, rügte ich mich dafür und fixierte schnell wieder mein eigenes Blatt Papier und nicht Kaden.

„Sorry, könnte ich einen Stift von dir haben?"

Mein linker Arm wurde angestupst und ich zuckte erschrocken zusammen, weshalb ich den Arm, der bis eben auf dem Tisch gelegen hat, ruckartig von dem Tisch runternahm und vor meinen Bauch klemmte. Mit flacher Atmung schaute ich geradewegs in Kadens Augen, welcher mich mit gerunzelter Stirn betrachtete.

„Mein Stift ist leer", sagte er und hielt seinen Stift hoch, „könnte ich mir einen von dir leihen?"

Seine raue Stimme schien mir fast bildlich vor Augen in Schallwellen entgegenzukommen, wie wenn man einen Stein in einen stillen See schmiss.

Während mein Kopf die Worte verarbeitete, fing meine linke Hand immer stärker an wehzutun, so fest war sie unabsichtlich zu einer Faust geballt. Dann atmete ich ein Mal tief durch und nickte. Ich griff in meine Federmappe und reichte Kaden einen Kugelschreiber.

„Danke", meinte er und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, während er mir den Stift aus der Hand nahm.

Und mit diesem Lächeln war plötzlich sein ganzes Gesicht in einem anderen Licht getaucht. Kurz wurden seine Augen weich und in der immerzu schwarzen, ausdruckslosen Mattheit blitzte ein dunkles Blau auf, wie der Nachthimmel. Für einen kurzen Moment sah er jung aus. Fast befreit. Und mir fielen Masons Worte von dem gestrigen Tag ein. Veränderte mich ein Lächeln auch so, wie es Kaden veränderte? War ich mittlerweile so gut in dem Schauspiel geworden?

Dann drehte er sich wieder zu der Tafel um und begann, weiter abzuschreiben. Mein Blick lag auf seiner großen Hand, in welcher mein Kuli viel kleiner wirkte, als wenn ich ihn hielt und Bilder fielen über mich ein. Bilder, welche ich annahm, längst vergessen zu haben.




Über das redenswerte SchweigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt