20 | Wie ich ein Stück Geborgenheit erhielt

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Mein Puls war rasend schnell und Panik brach über mich ein. Ich konnte hier nicht weg. Der einzige Weg von der Stelle zurück zu dem Weg war derselbe kleine Pfad, der auch hierhin führte. Und da ich nicht wusste, wie lange die Person hierbleiben würde, war auch in dem See abtauchen keine Option. Innerlich rügte ich mich für den Gedanken. Wer dachte schon in einer solchen Situation daran, sich in dem See zu verstecken? Verrückte Menschen!

Weitere Zweige knackten unter den Schritten, die immer lauter wurden. Die Person kam also wirklich hierher. Ich hatte keinen Grund, panisch zu sein, schließlich tat ich nichts, was verboten wäre. Aber das interessierte meinen Körper nicht.

Und dann tauchte die Person vor mir auf: „Was machst du denn hier?"

Kaden starrte mich ausdruckslos an, während ich gestresst die in meinen Lungen angestaute Luft laut ausatmete. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich den Atem angehalten hatte.

„Ich meine", fuhr er fort, „tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe."

Er blieb einige Schritte entfernt von mir stehen und steckte unschlüssig seine Hände in die Hosentaschen. Ich musterte ihn. Genauso hatte er auch dort gestanden, als ich meine Panikattacke gehabt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es Unsicherheit oder Verschlossenheit waren. Doch viel mehr beschäftigte mich die Frage, was er überhaupt hier tat?

Schnell schaute ich weg, als er zurückstarrte. Verdammt!

Ich räusperte mich und klopfte meine Hände, mit denen ich einige kleine Steine aufgehoben hatte, an meiner Hose ab: „Naja, ich denke- also, ich gehe besser."

Ich spürte seinen Blick auf mir, während ich aufstand und anfing, auf ihn hinzugehen, doch er machte keine Anstalten, irgendwie zu reagieren. Erst als ich fast bei ihm angekommen war und mich an ihm vorbeiquetschen wollte, antwortete er: „Du musst nicht gehen."

Überrascht blieb ich stehen und starrte auf meine Füße. Was meinte er damit?

„Außer dich stört es, wenn ich auch hier sitze", fuhr er fort und beantwortete somit die Frage, die ich mir innerlich gestellt hatte.

Aber warum sollte er sich jetzt auch zu mir hier hinsetzen wollen? War er eventuell schon öfters hier gewesen und ich nahm ihm gewissermaßen seinen Platz weg?

Und was, wenn es mich stören würde? Wer würde dies in einer solchen Situation zugeben? Okay, sicherlich gab es solche Menschen, auch wenn ich mir das nicht vorstellen konnte. Doch ich hatte Angst, mich wieder dort hinzusetzen, in seiner Gesellschaft. Wir waren keine Freunde. Wir waren gezwungen Sitznachbarn. Mehr nicht. Wieso also sollte ich mich in seiner Gegenwart wohl fühlen? Natürlich war da immer noch der Vorfall mit meiner Panikattacke, also war ich ihm es eventuell schuldig, jetzt nicht einfach so wegzulaufen?

„Okay."

Mit diesen Worten drehte ich wieder um und setzte mich wieder auf den großen, aber flachen Stein. Schritte signalisierten mir, dass Kaden mir folgte, woraufhin er auf einem größeren Stein zu meiner Linken Platz nahm.

Wir saßen still nebeneinander. Unser beider Blicke waren auf den See gerichtet, der eine Ruhe ausstrahlte. Einfach so saßen wir dort. Schweigend. In meinem Kopf fingen immer hektischer an, Gedanken herumzuschwirren. Ob ich etwas sagen sollte? Empfand er die Stille als unangenehm? Oder würde es ihm gerade unangenehm sein, wenn ich das Schweigen durchbrach? Aber vielleicht ging es ihm ähnlich wie mir und er war einfach nur unsicher? War der Zufall, dass wir beide hier saßen, eventuell ein Zeichen dafür, dass wir ähnlicher tickten, als ich bisher dachte?

Ich atmete tief die Luft ein, um etwas ruhiger zu werden. Ich war nicht dazu verpflichtet, etwas zu sagen, schließlich hatte er sich einfach zu mir gesetzt.

„Deine Hand", presste ich die Worte unter der größten Anspannung raus und verfluchte mich innerlich, dass ich unter ihr eingeknickt war, „wie geht es der?"

„Gut", erwiderte Kaden knapp, während sein Blick weiterhin auf den See gerichtet war.

Ich nickte, obwohl er ja gar nicht zu mir schaute und wendete dann auch meinen Blick wieder dem See zu.

„Warum sitzt du hier?", stellte er mir nun eine Frage.

Ich wusste nicht recht, wie ich auf die Frage antworten sollte. Zuhause war ich nie wirklich rausgegangen, bis mich meine Eltern förmlich rausschleifen mussten. Ich hatte einfach nie die Energie aufbringen können, mir den letzten Schubs durch die Haustür zu geben. Irgendwann, nach vielem Weinen und Flehen, ging ich dann routiniert raus. Und meine Eltern dachten, es würde mir deshalb besser gehen. Doch in mir hatte immer nur weiterhin das leere Nichts gebrütet. Bis ich eines Tages in dem naheliegenden Wald einen Platz gefunden hatte, der alles für mich verändert hatte. Ich konnte es mir nicht erklären, aber es war, als hätte ich dort hingehört. Niemand kam dort vorbei, so abgelegen war die Stelle. Ebenso waren keine Straßen in der Nähe, sodass ich nur von den Naturlauten umgeben war.

„Ich wollte einfach etwas durchatmen können", beichtete ich, die wichtigsten Details auslassend, die in meinem Kopf umherwirbelten.

Wie viele Menschen suchten schon Zuflucht bei irgendeinem Ort? Normale Menschen hatten dafür doch ihr Zuhause. Und ich wusste, dass es an mir und nicht an meinen Eltern lag, doch das ließ es nicht weniger schmerzhaft sein.

„Geht mir genauso", übertonte Kadens raue Stimme die Stille, „hier ist es angenehm ruhig."

Bis eben jedenfalls.

„Gefällt es dir bisher hier?", führte ich die Konversation fort und knibbelte an meinen Fingernägeln herum.

„Und dir?", entgegnete Kaden, ohne wirklich auf meine Frage einzugehen und ich fragte mich, warum er das tat.

Ich zuckte bloß mit meinen Schultern und schwieg. Tief atmete ich ein und hielt sie für einen kurzen Moment an, in dem ich mein Herz wie verrückt in meinem Brustkorb pochen spürte. Dann stieß ich sie wieder aus.

„Habe ich dich eben stark erschreckt?"

„Passt schon", meinte ich und blickte auf meine Füße hinab, welche ich langsam immer mehr zwischen die kleinen Steinchen auf dem Boden zwängte, sodass diese die Schuhe bedeckten.

„Okay."

Während wir also so dort saßen, fing der Himmel an, sich langsam dunkel zu verfärben und mir war klar, dass bald Zeit für das Abendessen sein müsste. Ich wusste nicht, wie lange wir auf den Steinen gesessen hatten. War das Handballtraining von Cassy und Mason eventuell sogar schon vorbei?

„Ich denke ich sollte langsam zurückgehen", durchbrach ich die Stille und stieß mich von dem Stein weg.

Fast hoffte ich, dass mich Kaden zurückrufen würde, damit wir einfach noch etwas gemeinsam in der Stille saßen, ohne uns gänzlich einsam zu fühlen. Aber ich wusste, dass er dafür keinen Grund hatte.

„Es ist okay für mich", erklang seine Stimme hinter mir, als ich schon etwas weggegangen war, „also, dass du auch hier bist. Wenn es für dich auch okay ist, diese Stelle mit mir zu teilen?"

Ein warmes Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus. Er hatte nichts gegen meine Anwesenheit hier. Vielleicht würde er aber auch diese Stelle von nun an meiden. Aber alleine der Gedanke, diesen Rückzugsort zu haben, machte mich glücklich.

Und obwohl so viel in meinem Kopf vor sich ging, blieb mir nicht unbemerkt, dass Kaden von sich aus mehr redete, als noch in der ersten Unterrichtsstunde. Vielleicht war er so wie ich einfach nicht gut damit, mit Fremden zu reden. Oder eventuell hatte ihm meine Panikattacke gezeigt, dass ich mit Dämonen zu kämpfen habe, auch wenn ich diese niemals aus Ausrede benutzen wollen würde.

Mit diesen Gedanken schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen und ich nickte: „Können wir so machen."

Und zum ersten Mal seit einer langen Zeit, fühlte es sich so an, als hätte ich meinen Platz gefunden.

Über das redenswerte SchweigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt