22 | Wie ich einen ersten Schritt wagte

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Ich starrte an die Zimmerdecke und wartete darauf, dass der Wecker klingelte. Ich hatte diese Nacht nur wenig Ruhe gefunden. Mein Körper lag ruhig auf der angewärmten Matratze, die leicht unter mir nachgab. Es war als wäre ich nicht wirklich hier. Als würde ich woanders hingehören. Aber wohin gehörte ich schon? Würde ich jemals einen geborgenen Ort finden, den ich mein Zuhause nennen können würde?

Ich wandelte den Morgen vor mich hin und immer und immer wieder fragte ich mich, ob ich gestern hätte anders handeln sollen, als Kaden den Saal verlassen hatte. Ich würde nicht darüber nachdenken, wenn ich nicht wollte, dass ich anders gehandelt hätte. Ich war zu schwach gewesen. Noch immer in mir selbst gefangen. Und genau deshalb war ich hier, nämlich um das zu ändern.

Der Stuhl in dem Klassenraum war hart. Die leicht gewölbte Sitzfläche gab nicht unter mir nach und fühlte sich wie eine kahle Betonfläche an. Meine Augen waren auf die Uhr fixiert. Mit hastigen, kleinen Bewegungen, fuhr der Sekundenzeiger immer weiter fort. Tick. Tack. Ich schaute zu Cassy und Mason, die lachend an ihrem Tisch saßen. Tick. Tack. Ich schaute zu Fay, deren glockenhelles Lachen bis hierher zu hören war. Tick. Tack. Ich war alleine. Tick. Tack.

Das Scheppern der Tür riss mich aus meinen Gedanken und meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich spürte, wie sich Kaden auf den Stuhl neben mir fallen ließ. Mein Körper spannte sich sofort an. Ich wusste, dass ich keine Schuldgefühle haben musste, doch ich konnte es nicht verhindern.

„Hallo", meinte ich gerade so laut, dass Kaden mich hören konnte, während ich weiterhin auf die Uhr starrte, die über der Tafel hing.

„Hi", kam die knappe Antwort und das Schweigen fiel über unsere Nähe einher.

Immerhin hatte ich ihn gegrüßt, das war ein kleiner Fortschritt. Etwas, was für andere so selbstverständlich war, aber mir so viel abverlangte.

„Ich wollte mich entschuldigen", murmelte ich, nachdem ich einen hastigen Blick zu Kaden geworfen hatte, der ebenso starr wie ich nach vorne schaute.

Ich begann, an meinen Fingernagelbetten zu knibbeln, sodass ich immer mehr in Versuchung kam, die abgeknibbelte Haut in einem Ruck abzuziehen, bis Kaden mir antwortete: „Warum?"

Es würde albern klingen, sobald ich es aussprach, weshalb ich nach etwas plausiblerem suchte, als meiner verdrehten Gedanken, doch währenddessen fiel mir ein, dass Wahrheit doch immer siegte. Aber ich hatte Angst davor, meine Gedanken preiszugeben. Ich war nicht sicher davor, dass sie nicht erneut gegen mich verwendet wurden.

„Na, wen haben wir denn da?", ertönte in dem Moment eine schmierige Stimme vor mir und ich sah Todd, der in der ersten Stunde die ganze Zeit seine Schere in der Hand hatte kreisen lassen, „die beiden Neuen. Habt ihr euch schon angenähert?"

Nach seiner letzten Frage ließ er seine Augenbrauen anzüglich wackeln. Wegen solcher Menschen traute ich mich nicht, aus mir herauszukommen. Warum interessierte sie das Leben anderer Menschen so sehr?

„Ich habe gehört, dass du von deiner alten Schule geflogen bist", meinte er an Kaden gerichtet, „stimmt das?"

Ich blickte verstohlen zu Kaden hinüber und bemerkte, wie sich seine Hände unter dem Tisch zu Fäusten ballte. Erschrocken blickte ich zu seinem Gesicht hinauf, welches noch tiefer in sich eingefallen zu sein schien, als bisher. Ihn schien das Gerücht in die tiefste Rage zu versetzen.

„Und woher maßt du dir an, das zu wissen?", zischte ich, doch mein Körper fing an, zu zittern.

Ich hoffte nur, dass es keine Gerüchte über mich gab, mit denen er mich niedermachen konnte.

Todds Blick zuckte zu mir hinüber und ich fühlte mich so klein wie lange nicht mehr. Warum hatte ich nur mein Mund aufgerissen?

Todds wütender Blick floss in sein vorheriges überhebliches Grinsen über: „Also läuft hier doch was. Freaks finden sich also doch."

Mit diesen Worten ging er weg und ließ mich zitternd und Kaden wütend zurück. Wie konnte man mich nur mit so wenigen Worten zur Weißglut treiben? Ich sollte klüger sein.

„Alles okay?", fragte ich Kaden, dessen Hände immer noch zusammengeballt waren und dessen Kiefer angespannt war.

„Sieht es so aus?", blaffte er mich an und ich zuckte erschrocken zusammen, doch er fuhr sich sofort mit seinen Händen über sein Gesicht und durch seine Haare, während er tief einatmete, um mich dann anzuschauen, „es tut mir leid."

Ich hielt meinen Blick gesenkt, während mein Herz wie verrückt raste. Wenn an dem Gerücht nichts dran wäre, dann würde ich sicherlich nicht so reagieren, oder? Aber was könnte ihn so wütend machen? War er wütend auf sich selbst? Oder war noch etwas anderes passiert, was der Rausflug eventuell kaschierte?

„Schon okay", murmelte ich und atmete tief ein, um mich wieder etwas zu beruhigen.

Ich blickte zu meiner Federmappe und mir stach meine Schere in den Blick. Er hatte mir einfach so geholfen, ohne sich sicher zu sein, ob ich es überhaupt verdient hatte. Ich sah Menschen mittlerweile als egoistisch an, doch welchen Profit hatte er sich von seiner Hilfe erdacht?

„Ich meinte wegen gestern", antwortete ich auf seine Frage, die eigentlich schon längst abgehakt war, durch die Unterbrechung von Todd, „ich habe dich im Speisesaal gesehen."

Ich sah, wie Kadens Kiefer weiterhin angespannt war und er kräftig schluckte.

„Aber ich war zu feige", fuhr ich unbeirrt fort, „sonst hätte ich dir angeboten, dich zu uns zu setzen. Deshalb tut es mir leid. Aber vielleicht das nächste Mal."

Meine Stimme war fast ein Flüstern und innerlich hoffte ich, dass er meine Worte gar nicht gehört hatte. Ich machte mich doch nur zu einer Idiotin. Warum glaubte ich, dass meine Worte und Gedanken bei ihm sicher waren? Ich konnte mir nicht sicher sein, aber ich nahm es einfach an. Denn obwohl er nicht der größte Meister der Worte war, sprachen seine Taten für sich.

Kaden nickte nur und schwieg. Und dieses Schweigen machte mich verrückt, weil ich es nicht einordnen konnte. Schwieg er, weil er meinen Gedankengang so unfassbar dumm fand? Oder weil er einfach nicht reden wollte?

„Danke", meinte er dann und ich hörte, wie seine Stimme ruhiger und weniger aggressiv artikuliert war.

Es war fast als hätten wir wieder unseren Einklang gefunden. Ich wusste nicht, was es war, aber ich war mir sicher, dass es ihm alleine schon guttat, zu hören, dass jemand an ihn dachte.

Ich musterte ihn und mir fiel auf, wie gedrungen er dort neben mir saß. Seine sonst so unnahbare Ausstrahlung schien für einen Moment fernab von ihm zu sein und er schien einfach nur wie eine Person, die zu stark etwas bedrückte. Wie eine einfache Person, die eine Last auf den Schultern mit sich herumtrug.

Über das redenswerte SchweigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt