Ich stand nervös gegen eine Wand gelehnt und umklammerte fest meine Tasche. Wenn ich um diese Ecke gehen würde, dann würde dort der Raum sein, in dem der Tanzkurs stattfinden würde. Ich war die Neue. Sicherlich würden alle Augen auf mich gerichtet sein. Bei dem Gedanken wurde mir ganz schlecht.Ich atmete tief in meinen Bauch ein, um etwas entspannter zu werden, als einer mir bekannte Stimme hinter mir erklang: „Hey. Jo, richtig?"
Ich drehte mich um, meine Hände noch immer um den Henkel meiner Tasche geklammert, und erblickte Fay. Ihr glänzendes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden und wippte bei jedem Schritt im Takt hin und her. Ein Strahlen lag auf ihrem Gesicht und ließ ihre Augen funkeln. Erneut wurde mir bewusst, wie wunderschön sie war.
Ich schluckte, nicht so recht wissend, was ich sagen sollte, da ich bis eben in meinem Kopf nur geübt hatte, was ich machen und sagen sollte, wenn ich den Raum betrat: „Hi."
Fay blieb etwas vor mir stehen und strahlte mich weiterhin an. Ich fragte mich immer, was wohl in den Köpfen solcher Menschen vor sich ging. Sahen sie nichts Schlechtes in der Welt und waren mit allem zufrieden, wie es nach außen hin den Anschein erweckte?
„Wollen wir zusammen reingehen?", fragte sie, „dann kann ich dir unserer Trainerin vorstellen."
In diesem Moment war ich Fay einfach nur ungemein dankbar. Sie kannte mich nicht, doch bot mir sofort ihre Hilfe an. Ich hätte erwartet, einfach irgendwo in der Ecke zu stehen, während sich das eingespielte Team über die unbeholfene Neue lustig gemacht hätte. Sie war so unfassbar aufgeschlossen.
Ich nickte: „Das wäre nett."
Sie lächelte mir noch mehr zu, wenn das irgend möglich war, und wir setzten uns in Bewegung. Sie strahlte solch eine Ruhe und Wärme aus, als wäre sie das Licht.
„Das da drüben ist unsere Trainerin Simone", erklärte sie mir und deutete zu einer Gestalt, von der ich nur den Rücken und die Lockenmähne, die in einem Dutt zusammengeknotete war, sah, „komm, ich stelle dich ihr mal vor."
„Hey, Simone", begrüßte Fay die Trainerin, welche sich umdrehte und sie anstrahlte.
„Fay", freute sie sich und zog das neben mir stehende Mädchen erst einmal in eine feste Umarmung, „freut mich, dich wiederzusehen. Wie geht es dir? Alles in Ordnung?"
Verwirrt blickte ich zwischen den beiden hin und her. Warum sollte etwas nicht in Ordnung sein?
„Alles bestens", antwortete Fay und schaute dann zu mir, „das hier ist Jo. Sie ist neu hier."
„Hi, Jo", meinte Simone, die nun auch zu mir blickte und mir ihre Hand hinstreckte, welche ich als Gruß schüttelte, „ich bin Simone. Ist ja cool, dass wir Zuwachs bekommen haben. Wir machen das hier sehr locker. Mir ist es wichtig, dass ihr Spaß an der Sache habt und euch wohlfühlt."
Sie war mir sofort sympathisch. Ich hoffte nur, dass die anderen in dem Kurs dieselbe Ansicht hatten wie Simone. Dadurch würde es mir leichter fallen. Wenn alle darauf bedacht waren, dass es ihnen gut geht und dass sie Spaß haben, fühlte ich mich eventuell etwas weniger beobachtet und musste mich nicht abrackern, um die Perfektion zu erreichen, die so unerreichbar erschien.
„Komm", meinte Fay an mich gewandt, nachdem sie noch kurz mit Simone über die Ferien geplaudert hatte, „wir gehen unsere Taschen abstellen. Hast du selbst Schläppchen dabei?"
Ich folgte ihr nickend und tat es ihr gleich, als sie sich für die Stunde vorbereitete,
Es machte wirklich Spaß. Ich hatte fast vergessen, wie viel Spaß mir das Tanzen machte. Sich einfach der Musik hinzugeben und die Emotionen auszudrücken. Meine Kondition war schwächer, ebenso meine Flexibilität, aber das hatte ich auch nicht anders erwartet.
Aber es tat gut. Es war auf eine Art befreiend, die ich mir selbst nicht erklären konnte, doch die mich mit Freude erfüllte.
Ich verbrachte die Zeit hinten im Raum, mit fünf anderen Mädchen in der letzten Reihe. Ich wollte nicht im Vordergrund sein und wurde auch glücklicherweise nicht dazu gedrängt. Fay stand vorne und bewegte sich mit solch einer Gelassenheit, aber zugleich waren ihre Bewegungen so präzise, dass ich wusste, warum sie ihren Platz dort hatte. Sie war wundervoll.
Mit der geschulterten Tasche und meiner fast leeren Wasserflasche, ging ich zurück zu meinem Zimmer. Gedämpfte Stimmen erklangen durch die Tür, wie es zu erwarten war.
Seufzend öffnete ich diese und eine strahlende Cassy schaute mich erwartungsvoll von ihrem Bett aus an: „Wie war es?"
Überfordert blieb ich in dem Türrahmen stehen. Ich hatte erwartet, dass Mason und sie in ein Gespräch vertieft waren und mich gar nicht wahrnehmen und nicht, dass sie fast scheinbar auf mich gewartet hatten.
„Cassandra", rügte Mason sie, welcher auf Cassys Stuhl saß, neben welchem ein Haufen Anziehsachen lag, der sicherlich zuvor auf dem Stuhl gelegen hatte, „Jo ist noch nicht einmal angekommen."
Cassy hätte auf meinem Stuhl gesessen, wäre Mason auf ihrem Bett gewesen und ich fragte mich, warum er nicht auf meinem Stuhl saß, sondern die Sachen von Cassys Stuhl geschmissen hatte, um dort zu sitzen. Wollte er nicht an meine Sachen gehen? Oder wollte er einfach nur einen Bogen um mich machen?
Ich lief schweigend zu meinem Stuhl herüber, um dort meine Tasche abzustellen, sowie meine nun geleerte Flasche auf den Tisch.
Dann drehte ich mich um: „Es war gut."
„Gut?", fragte Cassy und riss ihre Augen auf, „was heißt denn bitte gut?"
„Wahrscheinlich, dass es gut war", belehrte Mason sie und wich sogleich einem nach ihm geworfenen Kissen aus, welches ihn deshalb verfehlte.
Mason lachte belustigt und leichte Grübchen bildeten sich auf seinen Wangen, während er von Herzen lachte. Dem konnten Cassy und ich nicht widerstehen und mussten ebenfalls lachen. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus. Ich gehörte dazu.
„Die Trainerin ist wirklich nett", begann ich, zu erzählen, nachdem wir uns alle wieder etwas gefasst hatten, „und Fay war auch wie vermutet da, was echt cool war."
„Ja, die gute Fay", seufzte Cassy und ließ sich auf ihr Bett zurückfallen, sodass sie nun die Decke anstarrten.
Was war mit Fay? Ich hatte mir bisher nie wirklich Gedanken darum gemacht, aber als wir ein Mal vor dem Automaten gestanden hatten, da hatte Cassy schon so eine komische Bemerkung gemacht, nämlich als sie überrascht davon war, dass Fay wieder aß.
„Bestimmt wird sie das nächste Jahr die Vertrauensschülerin", meinte Mason, „man kann sie ja eigentlich nur mögen."
Man kann sie nur mögen. Den Eindruck hatte ich auch. Über mich konnte man das nicht sagen. Aber das konnte man bestimmt von kaum einer Person behaupten. Fast keiner hatte solch eine ruhige und akzeptierende Ausstrahlung.
„Ach ja?", schoss es aus Cassy hervor, die sich sofort wieder aufrappelte, „das ist ja perfekt! Dann wirst du auch Vertrauensschüler und ich kann euch verkuppeln."
Mason starrte seine beste Freundin mit einem Blick an, der so viel sagte wie: Mensch, Cassy, übertreib doch nicht gleich, ich werde sicher kein Vertrauensschüler werden.
Dieser Blick ließ mich schmunzeln. Wobei ich zugeben musste, dass Mason keiner minder positive Ausstrahlung hatte. Gleich bei unserer ersten Begegnung, war mir seine hilfsbereite Art positiv aufgefallen und ich hatte insgeheim gehofft, diese nette Person erneut zu treffen. Wie es das Schicksal so wollte, war es auch passiert. Und dafür war ich sehr dankbar.
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Über das redenswerte Schweigen
Teen FictionEs sollte ihr Neuanfang sein. Fernab von all dem, was bisher ihr abscheulicher Alltag war. Ein neuer Lichtblick, eine neue Chance. Sofort als die verschlossene Joleen ihr neues Heim erkundete, welches zugleich ihr Schulinternat sein würde, purzelte...