An dem nächsten Morgen wurde ich nicht von meinem Wecker geweckt. Darauf konnte ich auch gut verzichten, schließlich würde er mich ab dem folgenden Tag wieder aus dem Schlaf reißen, damit ich pünktlich in den Unterricht, oder was hier viel wichtiger war, in den Speisesaal kam, um zu frühstücken.Gestern Abend war es seltsam gewesen, in dem Raum einzuschlafen, immerhin würde ich nun für einige Zeit hier sein. Während Cassy schon längst in das Land der Träume gelangt war, lag ich noch immer wach und beobachtete die Lichtreflexe, welche an die dunkle Wand geworfen wurden. Kurzer Hand hatte ich mir meine Kopfhörer geschnappt und leise Musik angemacht, die mir etwas Trautes war, weshalb ich irgendwann auch einschlafen konnte.
Nun lag ich jedoch immer noch eingekuschelt in meinem Bett und drehte mich langsam um, da ich mit dem Gesicht zu der Wand geschlafen habe, um zu schauen, ob Cassy schon auf den Beinen war. Doch ihr Bett war leer.
Ich rubbelte mir über meine Augen und griff nach meinem Handy, um zu schauen, wie viel Uhr es war. Kaum dass ich die Uhrzeit abgelesen habe, musste ich stutzen. Warum war Cassy um acht Uhr schon auf und davon?
Stirnrunzelnd sah ich mich in dem erhellten Raum um und sah einen Kleiderhaufen an dem Fußende des Bettes meiner Mitbewohnerin neben dem Gestell liegen.
Ein Kratzen in dem Türschloss ließ mich aufhorchen und Stimmen, welche gedämpft und verzerrt durch die Tür erklangen. Ich hatte fast ein Déjà-vu. Dann wurde die Tür langsam geöffnet und ganz langsam blickte ich geradewegs in Cassys Augen, welche vorsichtig um die Ecke schaute.
Dann trat sie polternd in unser Zimmer: „Okay, sie ist wach."
Und schon lief auch Mason in unser Zimmer, wobei eigentlich nicht ganz, da er in dem Türrahmen stehenblieb und mich unsicher anschaute. Ich musste echt daneben aussehen. Glücklicherweise war meine Decke weit hochgezogen. Ich schaute peinlich berührt weg von ihm.
„Guten Morgen", trällerte Cassy fröhlich und strahlte mich an, während ich vernahm, wie sie ihren Kleiderhaufen auf ihr Bett beförderte, „seit wann bleibst du in dem Türrahmen stehen?"
„Vielleicht seitdem du eine neue Mitbewohnerin hast, welche mich noch gar nicht kennt und ich sie nicht bedrängen möchte", erwiderte Mason in einer Stimmlage, die so viel bedeutete wie »Mensch Cassy, das sind grundlegende Verhaltensregeln«.
Ich musste gegen meinen Willen lächeln und das auch noch kurz nach meinem Aufwachen, was an ein Wunder grenzte.
„Aber starren kannst du", stelle Cassy ihm eine Gegenfrage, „ob du nun von dort oder von hier starrst ist doch egal. Oder was meinst du, Jo?"
„Ehm", stotterte ich und man konnte die Unsicherheit und Müdigkeit praktisch aus meiner Stimme triefen hören.
„Wir sehen uns bei dem Frühstück", sprach Mason, „und guten Morgen, Jo."
Ich nickte ihm bloß zu und er warf Cassy einen letzten augenverdrehenden Blick zu, bevor er den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss.
„Männer", brummte Cassy, „die soll mal einer verstehen. Dabei behaupten sie immer, wie schwierig wir doch zu verstehen seien. Unglaublich."
Ich behielt es lieber für mich, dass ich schon recht glücklich war, dass Mason wieder verschwunden war, denn ich war erstens, nicht wirklich in Stimmung zu sozialisieren, so kurz nach dem Aufwachen, und zweitens musste ich wie eine Mumie aussehen. Außerdem lag er richtig damit, dass wir uns praktisch gar nicht kannten. Praktisch gar nicht? Eher rein gar nicht!
Cassy durchwühlte ihren Schrank und schmiss den Inhalt achtlos auf den Boden. Ob er von dort so bald weggeräumt werden würde?
„Suchst du etwas", fragte ich zaghaft nach und scannte den Raum nach auffälligen Ungereimtheiten ab.
„Mein schwarzes Star Wars T-Shirt", antwortete Cassy und drehte sich mit wuscheligen Haaren zu mir um, was mich auf den Gedanken brachte, dass meine Haare vielleicht doch gar nicht allzu schlimm aussehen mussten. Auch wenn ich meinen Gedanken irgendwie ziemlich gemein fand.
Ich seufzte: „Es liegt auf deinem Kopfkissen, du hast es zum Schlafen angehabt."
Mit einem wirren Blick huschten ihre Augen zu dem Kopfkissen und sie schlug sich prompt gegen ihre Stirn: „Stimmt!"
Ich beschloss, mich letztendlich auch zu erheben und tapste in das Badezimmer, während Cassy eine Umziehaktion startete. Kurze Zeit später war auch ich bereit, zu frühstücken. Und wie ich mir gedacht hatte, machte meine Zimmergenossin keine Anstalten, ihre verteilten Habseligkeiten einzusammeln. Aber das war ihre Sache und mich störte es bisher auch nicht sonderlich. Immerhin war ich selbst nicht unbedingt der penibelste Mensch.
In dem Saal angekommen breitete sich sofort Erleichterung in meinem Körper aus. Es gab hier nicht nur trockenes Brot und Wasser zum Frühstück, sondern auch gebratenen Speck und Rührei und andere Leckereien, die ich wohl alle mal bei Zeiten gegessen haben werde. Ob ich wohl irgendwann genug von diesem Essen haben werde, jetzt, wo es alltäglich sein würde?
Ich lud mir genug auf meinen Teller auf, um gesättigt zu werden und bei Kräften zu bleiben, aber nicht zu viel, als dass ich etwas hätte wegschmeißen würden. Ich hielt mich an Cassy, welche mir geduldig und etwas aufgedreht alles zeigte. Dann begaben wir uns an einen Tisch, an welchem schon Mason saß. Gab es die beiden eigentlich nur im Doppelpack?
Mason lächelte uns an: „Da seid ihr ja, ich hatte schon Angst, ihr hättet euch auf dem Weg nach Narnia verirrt."
Naja, das hätte Cassy sehr gut passieren können, so wie sie in ihrem Schrank gewühlt hat.
„Jetzt sind wir ja da, um deinen öden Tag zu erhellen", plapperte Cassy fröhlich und schnappte Mason den Krug mit Multivitaminsaft weg, um sich etwas einzuschütten.
Mason schnaubte und schüttelte ungläubig seinen Kopf, während sein Blick zu mir glitt. Verdammt, ich sollte wohl auch etwas sagen!
„Morgen", presste ich als eine knappe Begrüßung heraus und senkte sofort meinen Blick, weshalb ich mein Essen anstarrte.
„Gut geschlafen", erkundigte Mason sich, „es war immerhin deine erste Nacht hier."
Ich nickte bestätigend: „Ja, war ganz okay."
Während des Essens brabbelte besonders Cassy viel, weshalb meine Schweigsamkeit erneut wenig auffiel, so hoffte ich jedenfalls. Aber man konnte es auch immer noch darauf schieben, dass ich schlichtweg ein Morgenmuffel war. Bekanntlich gab es ja viele Exemplare dieser Art.
„Gehen wir gleich eigentlich noch zu dem See", durchbrach Cassy meine Gedanken und ließ mich aufhorchen.
„Eigentlich ja", meinte Mason, „aber was ist mit Jo?"
Ich blickte zu meinen Tischgenossen auf, welche beide gleichzeitig ihre Köpfe zu mir drehten, was gewissermaßen schon etwas gruselig war: „Was soll mit mir sein?"
„Cassy und ich haben einen traditionellen Tag vor dem Beginn des neuen Schuljahres, welcher immer gleich abläuft", erklärte Mason ruhig, „aber jetzt bist ja du hier und wir könnten auch etwas mit dir machen."
„Wir lassen es krachen", lachte Cassy stolz und kippte das Glas Saft hinunter.
Meinte er neue Traditionen herstellen? Aber ich wusste doch noch nicht einmal, ob ich wirklich hier bleiben würde. Vielleicht offenbarte sich die Idee noch als ein großes Fiasko. Und vielleicht wollte er auch einfach nur nett sein?
„Ich muss eh noch etwas auspacken und mich umschauen", beschwichtigte ich ihn, „also alles gut."
Er betrachtete mich und ich spachtelte schnell weiter mein Essen in mich hinein.
„Okay, wie du meinst", sagte Mason zögerlich, woraufhin zunächst Stille an unserem Tisch herrschte, welche jedoch schnell von Cassy durchbrochen wurde.
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Über das redenswerte Schweigen
Teen FictionEs sollte ihr Neuanfang sein. Fernab von all dem, was bisher ihr abscheulicher Alltag war. Ein neuer Lichtblick, eine neue Chance. Sofort als die verschlossene Joleen ihr neues Heim erkundete, welches zugleich ihr Schulinternat sein würde, purzelte...