21 | Wie ich ein Stück meiner Seele offen legte

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Ich saß an dem Tisch und starrte auf den frittierten Fisch hinab, neben dem Kartoffeln aus dem Ofen lagen. Warum musste man den Fisch frittieren? Es war fast so, als würden die einzelnen, fettigen Moleküle immer weiter herausstechen und mir hässlich in mein Gesicht lachen.

„Der Fisch wird dich schon nicht aufessen", meinte Cassy lachend, während sie herzhaft auf dem letzten Bissen ihres Fischs herumkaute.

Ich seufzte und begann, die Kartoffeln zu essen. Sie waren frisch mit Rosmarin gewürzt und schmeckten gut. Immerhin so gut, dass man sie essen konnte.

„Cassandra", rügte Mason sie, „wir sind hier noch immer unter Menschen. Hör also bitte auf wie der letzte Trampel zu essen."

Mit vollen Wangen schaute sie ihren besten Freund entrüstet an und hörte für einen Moment auf, wie eine Walze zu essen: „Aber ich habe Hunger?"

„Möchtest du meinen Fisch?", bot ich ihr an, da mir klar wurde, dass mich heute niemand dazu bringen könnte, diesen Fisch herunterzuwürgen.

„Jo", strahlte Cassy und fuchtelte mir mit der Gabel vor dem Gesicht herum, „warum bist du Engel erst jetzt in meinem Leben aufgetaucht?"

Begeistert stach sie ihre Gabel in den Fisch, dessen Kruste anfing, Öl auszuspeien. Ich war kein Engel. Und wenn doch, dann ein gefallener. Ohne Kraft.

Ich schaufelte mir einen weiteren Bissen Kartoffeln in meinen Mund, während Mason Cassy erneut belehrte, dass sie nicht immer das Essen anderer Leute nehmen könnte. Wahrscheinlich würde ich diese Diskussion von nun an wirklich täglich hören müssen. Oder vielleicht tat Mason das auch nur, weil er keinen schlechten Eindruck erwecken wollte, was bedeuten würde, dass ich doch noch kein wirklicher Teil des Trios war. Irgendwie war das auch verständlich. Schließlich hatten sie sich mich nicht ausgesucht, sondern ich war einfach nur die Mitbewohnerin.

Es war anders als mit Kaden. Auch er war neu hier und suchte seinen Platz. Ich hatte ihn bisher immer nur alleine gesehen. Mir war klar, dass seine kühle Fassade nur Abschreckung war. Sonst hätte er mir nicht geholfen und hätte an dem See das Weite gesucht. Er hatte etwas an sich, was ich nicht recht begreifen konnte. Ebenso wie ich war er kein offenes Buch, welches man schnell durchlesen und wegwerfen konnte. Ich wusste nichts über ihn. Und doch schien ich ihn auf eine verdrehte Art und Weise zu verstehen.

Wie auf das Stichwort, riss mich Cassys Stimme aus den Gedanken: „Meine Güte, das sind doch nur Menschen, die sich zu ihm setzen wollen. Was hat der nur für ein Problem?"

„Wer?", fragte Mason nach und schaute orientierungslos durch den Saal, um die Person ausfindig zu machen, über die sich Cassy beschwerte.

Ich schaute ebenfalls auf und folgte ihrem Blick, der mich zu niemand anderem als Kaden führte, welcher soeben von einem Tisch aufgesprungen war, an dem sich zwei andere Jungs zu ihm gesetzt hatten. Leute um ihn herum starrten ihn an und ich wünschte, ich könnte ihm irgendwie helfen. Er stach so sehr aus der Masse heraus, in welcher ich Meisterin war, unterzugehen, mit seiner großen, schlaksigen Statur und seinem Erscheinungsbild. Und dann bemerkte ich, dass das Tablett in seinen Händen schwankte. Es war kaum merklich, doch von nun auf war ich ganz darauf fixiert. Seine Hände zitterten.

„Na wer wohl", sagte Cassy anklagend, „der Neue natürlich. Sag mal, Jo, wie ist es eigentlich passiert, dass er sich an der Schere geschnitten hat?"

Mein Kopf zuckte zu ihr zurück und mein Blick glitt ein paar Mal hektisch zwischen den beiden Menschen hin und her, mit denen ich an dem Tisch saß: „Was? Ehm- Keine Ahnung."

Sofort ruckte mein Kopf wieder in die Richtung von Kaden zurück. Er sah verloren aus und ich wünschte ich könnte ihm helfen, wie er mir geholfen hat. Doch ich konnte ihn schlecht einfach zu uns rufen. Ich wollte mich ihm nicht aufdrängen, vielleicht interpretierte ich auch nur zu viel in seine Gestik hinein. Doch wäre ich an seiner Stelle, würde ich mich freuen, wenn jemand auf mich zukäme. Aber ich saß hier mit Cassy und Mason, die nicht unbedingt Vorreiter des Kaden-Fanklubs waren. Schließlich kannten sie ihn auch nicht. Aber mich kannten sie eigentlich auch nicht wirklich und ich Kaden auch nicht.

„Keine Ahnung, was mit ihm los ist", meinte Mason, „er spricht mit niemandem. Er hat sogar extra ein Einzelzimmer bekommen. So viel zum Thema integrieren."

Warum hatte er ein Zimmer für sich alleine bekommen? Mir wurde die Auswahl nicht gestellt. Hatte er dann extra eins angefordert? Aber warum sollte er das tun?

Meine Augen waren ganz auf Kaden fixiert, dessen Haarschopf klar zu erkennen war, während er sich an den Menschen vorbei durch die Tische schlängelte. Sein Blick war wie immer starr in eine Richtung gehalten, als würde er sich seiner ungemein sicher sein, doch noch immer sah ich seine Hände zittern. Was nur ging in ihm vor?

„Ich habe gehört, er wäre von seiner alten Schule geflogen", berichtete Cassy von den Gerüchten, die hier umhergingen und ich fragte mich, ob es solche Gerüchte auch über mich gab.

Anstatt mit Menschen Kontakt aufzunehmen, und versuchen, es ihnen so angenehm wie möglich zu machen, stellten lieber alle Mutmaßungen an. Und hinterher war die Sichtweise so verzerrt, dass jeder eine Idee von dem Menschen hatte, der ihnen fremd war.

Mir fielen Kadens geschriebene Worte von der einen Übung ein. Es gäbe keine Hoffnung. War er möglicherweise als Ausweg hier? Ebenso wie ich vor der Vergangenheit davonlaufend?

„Und wenn schon?", fuhr es aus mir heraus, „Gerüchte sind Gerüchte, nicht mehr und nicht weniger. Es gibt sicher über uns alle Vermutungen, die einfach so angestellt werden."

Mir wurde klar, dass Kaden auf den Ausgang zusteuerte. Was nur hatte er vor? Und dann, während er sich weiterhin durch die Tische schlängelte, fiel sein Blick auf mich. Seine Augen waren dunkel und kühl. Und mir war klar, dass das eine Fassade war. Denn hinter dieser Maske, verbarg sich ein mitfühlender Mensch, sonst hätte er sich nicht um mich gekümmert.

Ich wollte ihm helfen, wie er mir geholfen hatte. Aber hinterher übertrug ich meine Gedanken, wie ich mich in solch einer Situation fühlen würde, auf ihn. Ich wusste nicht, wie sein bisheriges Leben war und ob an den Gerüchten etwas dran war. Doch ich verstand ihn. Manchmal musste man nichts sagen, um verstanden zu werden. Und deshalb hoffte ich, dass er merkte, dass er einfach zu uns an den Tisch kommen könnte. Doch er lief weiter und mir blieb es nur, seinen Rücken anzustarren, während ich wie festgenagelt auf meinem Stuhl saß und mich innerlich ohrfeigte. Was war ich nur für ein Feigling.

Als er durch den Türbogen verschwunden war, riss ich meinen Blick wieder los und starrte auf meine Kartoffeln, auf welche ich dann wütend mit meiner Gabel einstach. Wieso hatte ich nun Schuldgefühle? Das war doch wohl sinnlos!

„Alles okay?", fragte Mason mich, während er mich beunruhigt bei der Massakrierung der Kartoffeln beobachtete.

„Ich finde nur, dass man nicht vorschnell urteilen darf", seufzte ich und zog meine Stirn kraus, „man weiß nie die Umstände, unter denen eine Person etwas gemacht hat und man sollte sie nicht aufgrund von Gerüchten verurteilen."

Das war es. Das war ich. Ich gab etwas von mir preis. Meine eigene Meinung. Und mir wurde zugehört.

Über das redenswerte SchweigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt