"Noch eins, bitte", bat ich den Barkeeper um ein weiteres Glas Wein. Etwas anderes gab es hier leider nicht zu trinken.
"Du weißt, eigentlich darf ich dir überhaupt keinen Alkohol geben. Das ist schon dein achtes Glas und die Party hat nicht einmal richtig angefangen.", bekam ich als Antwort auf meine Bitte.
Ich blickte ihn Vorwurfsvoll an: " Henry, bitte. Du weißt ich hasse Familienfeiern und außerdem bist du mein bester und einziger Freund. Also musst mich unterstützen."
Henry arbeitete als Barkeeper bei dem Party-Service, den meine Pflegefamilie gerne engagierte. Heute stand die Hochzeit einer Tante an und ich bin nur mitgekommen, um mich mit Henry zu unterhalten. Denn seitdem er studierte hatte er kaum noch Zeit.
"Leah, du bist sechzehn.. Ich kann dir nicht noch mehr geben."
"Vielen Dank" blaffte ich ihn an, verdrückte mich dann aber schnell von der Bar, da ich einer meiner Großcousinen sah, die in meine Richtung steuerte. Auf eine Diskussion mit ihr hatte ich gerade überhaupt keine Lust. Jedes Mal wenn wir uns sahen, stritten wir. Meistens über Kleinigkeiten.
"Ich ruf dich an!", rief ich Henry zu, schnappte mir meine Tasche und ging aus dem Saal durch die Eingangshalle nach draußen. Ich brauchte etwas frische Luft. Die Location für die Hochzeit war ein großer Ballsaal in der schönen Altstadt meiner Heimat. Überall standen alte Fachwerkhäuser und große Bäume.
Von diesem Ballsaal war es nicht weit bis zu der Wohnung, in der meine Adpotiveltern mit ihren zwei leiblichen Kindern, meinen älteren Geschwistern Josh und Katherine , und mir, dem Kind, das aus Mitleid adoptiert wurde, zusammen lebten. Die Wohnung lag in einem Mehrfamilienhaus und war eigentlich viel zu klein für eine fünfköpfige Familie, weshalb seit diesem Winter mein Zimmer auf dem Dachboden war.
Ich entschloss mich, nicht nach Hause zu gehen, da es Hochsommer war und in meinem Zimmer war es jetzt viel zu warm, um es dort den ganzen restlichen Abend auszuhalten. Stattdessen verschlug es mich in Richtung meines Lieblings-Cafès. Das hatte zwar um diese Uhrzeit- es war kurz vor elf- nicht mehr auf, aber die Besitzerin, Nelly, kannte mich inzwischen und war oft bis spät in der Nacht in ihrem Café. Ich stand schon oft mitten in der Nacht vor ihrer Tür, weil ich einen Platz zum schlafen brauchte und im Hinterzimmer gab es eine ausklappbare Matratze.
Nach einer viertel Stunde stand ich vor der braunen Tür, auf der in dunkelgrünen Buchstaben "Nelly's Cakefactory" stand. Ich klopfte und hörte kurz darauf von drinnen Rufe.
Die Tür wurde aufgerissen und ich wurde mit einem genervten "Was?!" begrüßt.
Vor mir stand nicht Nelly, sondern ihre Tochter Lisa.
Lisa war ein halbes Jahr älter als ich und mindestens einanhalb Köpfe größer. Sie war schlank, hatte blonde, lockige Haare und trug alte Jeans und ein T-shirt. Über ihrer Kleidung trug sie eine quitschgelbe Schürze, die voller Schokoladenflecken und Mehl war.
Ich ignorierte ihre nicht gerade freundliche Begrüßung und deutete auf ihre Schürze: "Hast du wieder versucht, zu backen?"
"Du kannst es genau so wenig wie ich!"
"Ich versuche es aber gar nicht erst." Ich schnappe mir einen von den Keksen, die auf jedem der kleinen Holztische standen, und ging Richtung Küche, in der ich Nelly vermutete.
Lisa stand immer noch an der Tür und ich spürte ihre bösartigen Blicke förmlich in meinem Rücken.
Wie ich vermutet hatte, stand Nelly in der Küche und rührte in einer Schüssel rum. Sie blickte auf und lächelte: "Hi, Leah", sagte sie mit einem amerikanischen Akzent, "brauchst du wieder einen Platz zum schlafen?"
"Nein, diesmal nicht. Ich bin von der Hochzeit meiner Tante abgehauen und nach Hause wollte ich auch noch nicht."
Nelly hörte auf zu rühren, kippte die Masse, bei deren bloßem Anblich ich schon einen Zuckerschock bekam, in eine pinkfarbene Herz-Kuchenform und stellte alles in den Backofen.
Lisa war inzwischen in die Küche gekommen und verzierte ein Backblech voll mit Cupcakes, während sie mich geflissentlich ignorierte.
Zusammen mit Nelly ging ich wieder zurück ins Cafè. Die grünen Tapeten waren mit braunen Schnörkel übersehen, die Verkaufsteheke war, wie das restliche Möbiliar auch, aus Holz und überall hingen altmodische Lampen. In einer Ecke stand eine braune Ledercouch, auf die ich mich fallen ließ.
Nelly hielt mir einen Teller voller unterschiedlicher Kekse unter die Nase: "Probier mal!"
Ich nahm mir einen Schokoladenkeks und schob ihn mir zwischen die Zähne. Er schmeckte gut, aber ich lehnte einen weiteren dankend ab. Nelly stellte den Teller auf ein Beistelltischchen und setzte sich neben mich:" Hochzeit, hm? Ich liebe Hochzeiten; ich verstehe nicht, dass du so unromantisch bist."
Ich verdrehte die Augen:"Menschen benehmen sich wie Vollidioten, wenn sie verliebt sind. Was soll daran so toll sein?"
"Die Liebe ist schön. Das wirst du auch noch rausfinden." Sie lächelte mich an. Dass sie bereits zweimal geschieden war, machte sie nicht unbedingt glaubwürdiger. Ich seufzte und nahm mir doch noch einen Keks.
Als ich gerade in diesen gebissen hatte, hörten wir einen Schrei aus der Küche. Gleichzeitig sprangen wir auf und ich lies meinen angebissenen Keks auf den Boden fallen. Nelly und ich wollten in die Küche, aber Lisa stand schon mit weit aufgerissenen Augen in der Küchentür. Ihre Hände zitterten und sie sprach so leise, dass ich Mühe hatte, sie zu verstehen:"Da ist jemand."
Nelly eilte zu ihr und nahm sie in den Arm:"Shhhh, es ist alles gut. Das hast du dir nur eingebildet."
"Habe ich nicht! Da war wirklich jemand! Er war voller Blut und.. und" Lisa brach in Tränen aus. Nelly blickte mich verzweifelt an.
"Ich geh schon."
DU LIEST GERADE
Die Chroniken der verborgenen Jäger
FantasiAls Elijah und Hugh blutüberströmt vor Leah stehen, ahnt keiner von ihnen, dass sie eine große Rolle in deren Welt spielt. Denn erst als sie erfahren, dass Leah und Elijah ein besonderes Band verbindet, erkennen sie, dass es Mächte gibt, die gegen d...